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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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über den Rand des Brunnens und äugten vorsichtig hinunter.
    Bist du sicher, dass da welche waren?, sagte der eine.
    Sicher, antwortete der Vorarbeiter.
    Die sind erledigt, sagte der Dritte.
    Still, da ist was.
    Was?
    Ein Geräusch.
    Da tropft nur das Wasser vom Gestein in die Tiefe.
    Zwischen den Balken saß Siyakuu und presste die Hand auf Alexas Mund, aus einer Wunde in seinem Bein rann Blut, Tropfen für Tropfen fiel mit leisem Klatschen ins Wasser.
    Schließlich zogen die Kopfjäger ab. Notdürftig verband Siyakuu Alexas Wunde. Endlos zogen sich die Stunden. Alexa brauchte dringend einen Arzt. Aber der Abend war noch weit, zu gefährlich, den Brunnen jetzt zu verlassen.
    Gegen Mittag, Siyakuu war in einen Dämmerzustand gefallen, sauste der Schöpfeimer herab. Dann wieder die Stimme des Vorarbeiters. Diesmal in gebrochenem Deutsch: Halt, Herr, halt! Viele Brunnen verseucht. Viel Tod überall, verstehen Sie?
    Wo kann man hier trinken?, fragte die Stimme eines Fremden.
    Ja, sicher da! Und auch dort. Soll ich den Herrn begleiten?
    Schon gut, ich muss weiter. In welche Richtung, sagtest du, sind die Armenier gezogen?
    Nein, das war kein Fremder. Das war doch Estragons Stimme. O Gott, Estragon!
    Wie rufen, ohne rufen zu dürfen? Da surrte der Eimer aufwärts, surrte an ihr vorbei.
    Als Estragon den Eimer mit Schwung über dem Erdboden ausgoss, blieb inmitten des versickernden Wassers ein Stofffetzen liegen.
    Sehen Sie, Herr, wie ich sagte: Selbstmörder.
    Ehe der Vorarbeiter das Tuch fassen konnte, war Estragon hinzugesprungen und hatte es an sich genommen. Zwischen den Blutflecken auf dem seidenen Tüchlein hatte er etwas gesehen, was er näher betrachten musste: eine Stickerei? Ja, das war es, fein säuberlich eingestickt eine tanzende Frau, zu ihren Füßen ein Tiger, Ahmads Tiger.
    Endlich kam die Nacht. Am Brunnen traf Estragon auf die kleine Frau. Man begrüßte sich zögernd, sprach über die klare Sternennacht und lenkte schließlich das Gespräch auf die Fabrik, die fehlenden Arbeitskräfte, die Armenier … Es dauerte eine Weile, bis man begriff, man konnte einander vertrauen. Gemeinsam holte man Siyakuu und den verletzten Alexa aus ihrem Versteck.
    Siyakuu!
    Sie war kaum eines Wortes fähig. Die ganzen langen Wochen während der Deportation, während ihrer Flucht durch die Wüste, hier in der Fabrik, immer hatte sie klug und rational gehandelt. Jetzt rollte Welle auf Welle ein Schluchzen durch sie hindurch. Es schüttelte sie ungebremst und laut. So laut drang es durch die Nacht, dass die kleine Frau kurzerhand ihr Schultertuch abnahm und auf Siyakuus Gesicht presste.
     
    Es war der Graf von der Artillerie, der sich ritterlich gebärdete und half. Mag sein, er wollte das Bombardement auf das deutsch beflaggte Haus wiedergutmachen. Oder es war seine und Estragons gemeinsame Vorliebe für Hölderlin, die in ihm den Retter erweckte. Vielleicht aber versteckt sich das Gute manchmal tief in unserem Herzen wie in einem Brunnen. So tief, dass es nur sehr schwer hervorzulocken ist.
    Jedenfalls waren die kleine Frau, Alexa, Siyakuu und Estragon auf einem deutschen Lastwagen bis nach Damaskus gereist. Während die kleine Frau Alexa nach Deutschland mitgenommen hatte, waren Siyakuu und Estragon bis zum Kriegsende in einer Templerkolonie in Palästina geblieben.
    Als Estragon nach Deutschland abgereist war, ging Siyakuu nach Anatolien zurück. Die neue türkische Regierung hatte Gerechtigkeit versprochen, und in Istanbul wurden Prozesse geführt, gewisser Ausschreitungen wegen, wie es offiziell hieß. Siyakuu verbrachte einige Zeit in Alaiye, wo sie, als es so weit war, frische Seidenraupeneier kaufte. In Konya, im Haus ihres Vaters, begann sie eine neue Zucht. Lange hoffte sie, ihr Vater käme zurück. Vergeblich. Nun stürzte sie sich erst recht in die Arbeit und führte die Zucht weiter. Sie fand sogar jemanden, der ihr das rohe Seidengarn abnahm, ein Händler aus Sachsen, von dem wir bei anderer Gelegenheit schon hörten. Siyakuus Seidenherstellung florierte, sie baute das Haus aus, stellte Leute ein, war eine gestrenge Chefin und harte Geschäftsfrau.
    Estragon war es, der sie nach ihrer Wiederbegegnung in Istanbul fragte: Weißt du, was sie aus deiner Seide in Deutschland jetzt machen? Fallschirme für die Luftwaffe.
    Es war nicht nur das. Estragon hatte auch von Hans Kaspar erzählt. Er schien für sie verloren für immer. Was blieb, war eine ungestillte Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die sie trieb, zu Beginn

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