Der Lavagaenger
Sauhund. Jetzt haben wir dich, wir von der Bahn … Jetzt gehst du ab. Die machen dich rund, rund werden die dich machen. Hast es nicht besser verdient.
Letzte Woche hing schon einer. Im Wäldchen hinter der alten Kiesgrube. Gleich früh, damit die Kinder, wenn sie nach der Schule zum Baden kommen, das nicht mitkriegen. Erst sind die Polen aus ihrem Quartier anmarschiert, ein paar Fremdarbeiter, die mit dem P. Der im Schuppen hat ihn also auch hängen sehen. Die anderen waren allesamt Kriegsgefangene. Die hatten noch ihre braunen Uniformen an. Auch der, der sich an einer Deutschen vergriffen haben soll. Zwei Beamte in Zivil schoben ihn aus einem PKW. Ein SA-Mann legte dem Polen den Strick um den Hals, und zwei andere zogen ihn langsam hoch. Erst soll ja der Ast gebrochen sein. Einer hatte die Idee und hat vom Feld so eine Stange von einem Heuschober geholt. Die haben sie quer rüber zwischen zwei Bäume gelegt. Strick in die Mitte, fertig. Zwanzig Minuten soll er gehangen haben. So lange hat es gedauert, bis er tot war.
Hans Kaspar kam von der Schicht, ist vorbeigeradelt mit langem Hals, hat ihn, über die Wegböschung weg, hängen sehn. Nein, kein schöner Anblick.
Ein Gendarm mit Gewehr stand Posten und trieb ihn an: Weiterfahren, weiterfahren.
Hat ihn also hängen sehen letzte Woche, der Pole den Polen. Hat also gewusst, was einem passieren kann. Die hatten doch ein schönes Leben auf den Höfen. Und im Ausbesserungswerk. Immer ’ne warme Mahlzeit. Das versteh einer. Warum hat der das gemacht?
Den sie gehängt haben, na gut, der hat es vielleicht nicht mehr ausgehalten, so als Mann. Oder er war verliebt. So richtig verliebt. Kann sein, sie haben sich beide geliebt. Die Frau soll ja jetzt im Zuchthaus sitzen. Die Ärmste wusstenicht, auf was sie sich da einlässt. Kann sie aber gewusst haben, stand ja schwarz auf weiß auf den Merkzetteln:
Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann verkehrt oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft.
Die sollen sich noch mal einmachen, kurz vorm Tod. Die Zunge quillt dick und blau aus dem Mund. Nöö, das soll man keinem wünschen. Auch keinem Polen. Kann ja nichts dafür, dass er Pole ist. Niemand kann überhaupt was dafür, als was er geboren wird. Und nun entscheiden da welche plötzlich, wie einer sterben soll, wie einer lieben soll, dachte Hans Kaspar.
Hat er so gedacht? Helder weiß es nicht, aber möglich ist es. Möglich auch, der Pole im Schuppen hatte ein Stück aus einem morschen Brett gepolkt, linste nun aus seinem Guckloch, peilte die Lage, weil es so still war. Dann hat er was gesehen.
Hans Kaspar bemerkte ihn, sah den Blick des Polen mitten auf den Hof gerichtet, dorthin, wo vom nächtlichen Regen eine Pfütze noch stand. Was gab es da zu sehen, gar zu hoffen auf Rettung?
Nichts, nur eine badende Amsel. Die tauchte ihr Gefieder ins brauntrübe Wasser, schüttelte und putzte sich, drehte den Kopf, und da war sie wieder die Erinnerung: Siyakuu auf der Terrasse ihres Hauses in Konya, Ahmad mit der Pferdekopfgeige, der Tiger im Schatten. Wie das Wasser in der Schüssel plätscherte, wie Siyakuu den Kopf in den Nacken warf, die nassen Haare griff und dann im Rhythmus von Ahmads Musik mit der freien Hand ins Wasser schlug. Als er später mit Ahmad den Sema tanzte und mit Siyakuu. Da hatte die Welt in seinem Herzen Platz.
Nicht die Welt, hatte Ahmad gesagt, Gott ist wiedergeboren in dir.
Schwarzer Vogel, Siyakuu, wessen Botin ist die Amsel?
Hans Kaspar blickt zum Schuppen und sieht in die Augen des Polen. Hans Kaspar wird unruhig. Er weiß plötzlich nicht mehr, was richtig ist. Nur eins weiß er, dass er den Polen jetzt nicht mehr einfach der Polizei übergeben kann, nicht der Polizei und nicht dem Strick. Aber wohin mit ihm, wohin?
Hans Kaspar wehrt sich noch, zwingt sich, an die Beinahe-Katastrophe der letzten Nacht zu denken: wie der Vierzehnnullfünf auf die 97 zudonnert, mit der ersten Achse den Bremsschuh herausdrückt und dadurch diese Weiche schadlos passiert. Wie er aber gleich darauf an der Weiche 113, die ein Stein blockiert, in voller Fahrt aus den Schienen springt. Wie zwei Kompanien Soldaten, die doch wohl auch Menschen sind, eben aus den umgestürzten Waggons klettern wollen, als der Nachtexpress in die Unglücksstelle rast. Noch einmal 160 verletzte und tote Zivilisten dazu.
Ist nicht passiert, er, Hans Kaspar, hat es verhindert. Aber der Pole? War vielleicht sein Freund, der – Lewkowiec soll er
Weitere Kostenlose Bücher