Der Lavendelgarten
sie erwachsen sind, aber wahrscheinlich ändern sich die beiden nie.«
»Sie scheinen sich tatsächlich nicht sonderlich zu mögen.«
»Das ist die Untertreibung des Jahres«, seufzte Norma und tätschelte Emilies Hand. »Mir ist klar, dass Sie sich als Ehefrau des einen mit Kritik zurückhalten.«
»Stimmt, die Atmosphäre im Haus ist angespannt. Und da ich die Vorgeschichte nicht kenne, kann ich die Situation nicht richtig einschätzen. Deshalb wollte ich Sie bitten, mir alles zu erklären. Wenn ich weiß, wo das Problem liegt, lässt es sich vielleicht beheben.«
Norma sah sie an. »Das bedeutet leider, dass ich ein paar ziemlich unangenehme Dinge über den Mann sagen muss, den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit geheiratet haben. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die hören wollen. Ich kann Sie nicht anlügen, Mrs Carruthers. Wollen Sie wirklich die Wahrheit erfahren?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Emilie ehrlich. »Aber sie ist besser als Vermutungen.«
»Alex hat sich nicht dazu geäußert?«
»Nein. Er weigert sich, mit mir über seinen Bruder und die Vergangenheit zu sprechen.«
»Immerhin. Na schön.« Sie schlug sich auf die runden Knie. »Ich hoffe nur, dass ich das Richtige tue. Aber Sie haben mich ja darum gebeten.«
»Ja«, bestätigte Emilie.
»Sie wissen wahrscheinlich, dass die Jungen von ihrer Mum aus der Hippie-Kommune, in der sie in Amerika gelebt hat, hierhergebracht wurden?«
»Ja.« Wieder einmal hatte Emilie Mühe, ihren starken Yorkshire-Akzent zu verstehen.
»Die beiden waren nur achtzehn Monate auseinander. Obwohl Sebastian der Ältere war, hat sich bald herausgestellt, dass der Jüngere das hellere Köpfchen hatte. Alex konnte schon vor seinem vierten Geburtstag lesen und schreiben. Er war ein richtiger Charmebolzen und hat es immer geschafft, mir ein Stück Kuchen abzuluchsen, sogar vor dem Essen!« Norma schmunzelte. »Mit seinen großen braunen Augen hat er ausgesehen wie ein kleiner Engel. Verstehen Sie mich nicht falsch, Mrs Carruthers, Ihr Mann war auch ein süßer Bengel, aber er hatte nicht den Grips von seinem kleinen Bruder. Er war nicht dumm und auch ganz hübsch, doch Alex konnte er einfach nicht das Wasser reichen. Sebastian wollte immer der Bessere sein, aber Alex hat ihn jedes Mal übertrumpft, ohne sich groß anstrengen zu müssen.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Es hat auch nicht grade geholfen, dass Alex der Augapfel seiner Großmutter war.«
»Das muss ziemlich hart für Sebastian gewesen sein.«
»Allerdings. Als sie älter wurden, ist ihr Verhältnis nicht besser geworden, sondern eher noch schlechter. Wann immer Sebastian Alex in Schwierigkeiten bringen konnte, hat er’s getan.«
»Hat Alex sich gewehrt?«
»Nein.« Norma verzog das Gesicht. »Kein einziges Mal. Er hat seinen großen Bruder verehrt und sich von Sebastian immer einreden lassen, dass er schuld ist. Ihr Mann besitzt die Gabe, anderen ein X für ein U vorzumachen.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Lage hat sich ein bisschen beruhigt, als Sebastian ins Internat gegangen ist und mit seinen Erfolgen dort prahlen konnte. Aber dann hat Alex ein Stipendium für dieselbe Schule gekriegt, und wir haben alle Großes von ihm erwartet. Nach einer Weile hat Constance – Mrs Carruthers – plötzlich Briefe von der Schule bekommen, weil Alex Schwierigkeiten machte. Hier hat das keiner verstanden, denn der Junge war ein richtiges Lämmchen und ein Bücherwurm und hat sich nichts aus Schlägereien gemacht. Jedenfalls ist er das Jahr drauf von der Schule geflogen. Angeblich hatte er in der neuen Turnhalle Feuer gelegt.«
»Hatte er das tatsächlich?«
»Hat zumindest die Schulleitung behauptet. Alex hat sich ausgeschwiegen, obwohl seine Oma und ich ihm zu entlocken versucht haben, was tatsächlich passiert ist. Ich habe da nämlich einen Verdacht.« Mrs Erskine sah Emilie vielsagend an.
»Jedenfalls musste Alex nun in die hiesige Schule, wo nicht mal ich meine Kinder hingeschickt hätte. Alex hat da überhaupt nicht hingepasst. Trotz der schlechten Lehrer hatte er ausgezeichnete Noten, und am Ende hat ihm die Uni in Cambridge einen Studienplatz angeboten. Seine Oma war ganz aus dem Häuschen, dass ihr Liebling es geschafft hatte. Sebastian dagegen, der Faulpelz mit seiner teuren Ausbildung, konnte am Ende froh sein, dass sie ihn in Sheffield in Kunstgeschichte genommen haben.«
Norma trank einen Schluck Kaffee.
»Der Sommer bevor Alex in Cambridge anfangen sollte, ließ sich gut an. Die
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