Der Lavendelgarten
Nacht.«
James und Connie, die Einzigen, die das Angebot ausschlugen, blieben im Eingangsbereich, während die anderen in den Salon wechselten.
»Gehst du nicht rüber?«, fragte James.
»Nein, ich bin müde.« Eigentlich hatte sie »überwältigt« sagen wollen, doch das verkniff sie sich.
»Mir geht’s genauso.«
Sie bewegten sich zur Treppe. James blieb auf der untersten Stufe stehen.
»Hast du Angst?«, erkundigte er sich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Connie.
»Ich schon«, gestand James. »Aber wir müssen alle unsere Pflicht tun. Gute Nacht, Constance.« Er stieg die Treppe hinauf.
»Gute Nacht.« Connie verschränkte fröstelnd die Arme vor dem Körper und trat an eines der riesigen Fenster, um den Vollmond draußen zu betrachten. Hatte sie Angst? Sie wusste es nicht. Vielleicht hatte der Krieg, der nun schon mehr als vier Jahre dauerte, sie abgestumpft. Seit Lawrence wenige Wochen nach ihrer Hochzeit eingerückt war, hatte Connie das Gefühl, als wäre ihr Leben angehalten worden, zu einer Zeit, in der eigentlich alles hätte beginnen sollen. Anfangs war sie vor Sehnsucht fast gestorben. In dem riesigen zugigen Haus in Yorkshire, in dem ihr nur seine mürrische Mutter und ihre beiden altersschwachen schwarzen Labradore Gesellschaft leisteten, hatte sie viel zu viel Muse zum Nachdenken gehabt. Ihrer Schwiegermutter war es nicht recht gewesen, dass sie nach London ging, um das Jobangebot des MI5 anzunehmen, das ihr ein Bekannter ihres Vaters vermittelt hatte, weil er sah, dass sie im düsteren Hochmoor verkümmerte.
Viele ihrer jungen Kolleginnen beim MI5 hatten die merkwürdig fröhliche Atmosphäre in London genossen und sich von Offizieren auf Heimaturlaub zum Essen und in Klubs einladen lassen. Etliche dieser Frauen waren verlobt oder sogar verheiratet, und ihre Männer kämpften irgendwo im Ausland, doch das schien sie nicht vom Ausgehen abzuhalten.
Connie sah das anders. Lawrence war, seit sie ihn im Alter von sechs Jahren bei einem Tennismatch in Yorkshire kennengelernt hatte, der einzige Mann, den sie liebte, und würde es immer bleiben. Obwohl sie klug genug gewesen war, nach der Sorbonne einen Beruf zu erlernen, und obwohl Frankreich ihr besser gefiel als das düstere North Yorkshire, hatte sie sich bereiterklärt, irgendwann einmal die Hausherrin von Blackmoor Hall und für immer die Ehefrau ihres geliebten Lawrence zu sein.
Doch ein paar Wochen nach dem glücklichsten Tag ihres Lebens, an dem sie die kleine katholische Kapelle auf dem Anwesen von Blackmoor Hall betreten und ihr Ehegelübde abgelegt hatte, war ihr der Mann, den sie seit vierzehn Jahren liebte, einfach weggenommen worden.
Connie seufzte. Vier Jahre lang hatte sie jeden Tag in der Angst vor dem Telegramm gelebt, das ihr mitteilte, dass ihr Mann vermisst sei. Irgendwann war es tatsächlich eingetroffen. Aufgrund ihrer Tätigkeit beim MI5 wusste sie nur zu gut, dass die Aussicht, Lawrence lebend wiederzusehen, nach zwei Monaten von Tag zu Tag geringer wurde.
Sie ging zur Treppe. Solange sie nichts über den Verbleib von Lawrence wusste, war es ihr letztlich egal, ob sie lebte oder starb.
Als sie sich ins Bett legte, ließ sie das Nachtlicht für Venetia an. Es war schon fast Morgen, als sie sie kichernd hereinkommen und über etwas am Boden stolpern hörte.
»Bist du wach, Con?«, flüsterte Venetia.
»Ja.«
»Mensch, war das ein Spaß heute! Henry ist ein Traum, findest du nicht?«
»Er ist sehr attraktiv, ja.«
»Schätze, die nächsten Wochen werden viel angenehmer, als ich befürchtet hatte«, sagte Venetia gähnend. »Gute Nacht, Con.«
Doch die folgenden Wochen brachten alle an ihre Grenzen. Jeder Tag war ausgefüllt mit harten körperlichen und geistigen Übungen. Wenn sie nicht gerade in einem Graben den Umgang mit Dynamit lernten, kletterten sie Bäume hinauf und verbargen sich zwischen den Ästen. Sie prägten sich ein, wie essbare Nüsse, Beeren, Pilze und Blätter aussahen, absolvierten endlose Schießübungen und ihren allmorgendlichen Acht-Kilometer-Lauf. Venetia, die genauso viel Energie auf ihre Affäre mit Henry verwendete wie auf die täglichen Übungen und oft erst nach vier Uhr morgens ins Bett kroch, keuchte am Ende der Gruppe.
Connie hingegen überraschte es, dass sie selbst die Anforderungen der Ausbildung so gut bewältigte. Nun machte es sich bezahlt, dass sie in Yorkshire so oft im Hochmoor unterwegs gewesen war. Sie spürte, wie ihre Körperkräfte von Tag zu Tag wuchsen. Connie war
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