Der Lavendelgarten
Ich muss jetzt leider nach Hause, für Anton und mich kochen.«
»Natürlich. Wir sehen uns vor meiner Abreise. Dann bekommen Sie auch Ihren Lohn. Noch einmal danke für alles.«
Als die Dämmerung hereinbrach, befanden sich alle Bücher in dem abfahrbereiten Lastwagen.
»Madame de la Martinières, wenn Sie bitte hier unterschreiben würden. Damit bestätigen Sie, dass Sie den Inhalt des Wagens überprüft haben, der aus 24307 Büchern besteht. Ihr Mann hat bei unserem Gespräch letzte Woche eine Versicherungssumme von einundzwanzig Millionen Francs vorgeschlagen«, teilte Gilles ihr mit.
»Ach.« Emilie hob eine Augenbraue. »Ist das nicht ein bisschen hoch?«
»Es handelt sich um eine beeindruckende Sammlung, Madame. Ich an Ihrer Stelle würde sie, wenn die Bände wieder hier sind, von einem Fachmann schätzen lassen. Heutzutage können alte Bücher ein Vermögen wert sein.«
»Ja, natürlich.« Sebastian hatte ihr das ebenfalls geraten, doch sie hatte die Sammlung bisher nie unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet. »Danke für Ihre Hilfe.«
Emilie sah dem Wagen nach, wie er in der Dunkelheit verschwand, und ging dann in die Küche, um den geschmorten Ochsenschwanz zu verzehren, den Margaux für sie zubereitet hatte. Vor ihr befanden sich die Unterlagen aus dem Schreibtisch ihres Vaters, die sie hastig in zwei schwarze Müllsäcke gestopft hatte, bevor der Schreibtisch ein paar Wochen zuvor ins Lager gebracht worden war. Es handelte sich um private und geschäftliche Korrespondenz, die bis in die sechziger Jahre zurückreichte, sowie um Fotos ihrer Eltern in Paris und im Garten des Châteaus.
Außerdem fand sie welche von sich als Baby, Kind und Teenager mit unvorteilhaftem Pony und plumpem, pubertärem Körper. Beim Sichten der Sachen vergaß sie die Zeit und fühlte sich ihrem Vater plötzlich sehr nahe. Als sie die Liebesbriefe las, die ihre Mutter ihm geschrieben hatte, musste sie sogar weinen.
Nun bestand kein Zweifel mehr, dass Valérie ihren Mann geliebt hatte. Emilie wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab.
Ihr wurde klar, dass die Distanzierung von ihrer Familie und deren Geschichte ihr den Blick auf ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben verstellt hatte. Natürlich gab es Dinge, die sie nie würde verzeihen können … aber wenn sie wenigstens begriff, warum sie geschehen waren, konnte sie sich vielleicht endlich davon befreien.
Es war nach Mitternacht. Emilie hörte ihre Mailbox ab, wieder keine Nachricht von Sebastian. Sie begab sich seufzend in ihr kaltes Schlafzimmer, froh darüber, dass sie ihre Wärmflasche eingepackt hatte.
Im Bett grübelte sie über Sebastians Distanziertheit am Wochenende und sein Schweigen seitdem, weigerte sich aber, sich davon beeindrucken zu lassen. Wenn Sebastian aus irgendeinem Grund aufgehört haben sollte, sie zu lieben, würde sie das irgendwie überleben. Sie war das Alleinsein von Kindesbeinen an gewöhnt.
20
Der folgende Vormittag, an dem Emilie den Architekten und den Bauleiter begrüßte, gestaltete sich hektisch. Nachdem sie sich bei einem Rundgang durchs Gebäude über die Einzelheiten der Renovierung unterhalten hatten, las Emilie schluckend den berichtigten Kostenvoranschlag. Doch der Architekt versicherte ihr, dass die Arbeit angesichts des zu erwartenden Wertzuwachses jeden Centime wert sei.
»In den kommenden Monaten werden wir noch oft miteinander zu tun haben«, erklärte Adrien, der Bauleiter. »Wenn Sie das nächste Mal kommen, dürfen Sie nicht erschrecken. Es wird großes Chaos herrschen und eine ganze Weile dauern, bis Ihr schönes Haus wieder in seinem früheren Glanz erstrahlt.«
Als alle weg waren, ging Emilie noch einmal durchs Gebäude, um den Räumen zu versichern, dass der Prozess der Veränderung, den sie durchlaufen würden, zu ihrem Vorteil war.
Ein paar Stunden zuvor hatte sie Jean angerufen, um sich für den Abend anzumelden. Nun schlenderte sie in die Spülküche zu ihrem Koffer und den beiden schwarzen Müllsäcken und nahm die Papiere und Bilder heraus, die sie noch nicht durchgesehen hatte. Dabei fiel ihr ein vergilbter Umschlag in die Hände, den sie öffnete. Darin befand sich ein Foto des sehr jungen Édouard am Strand, der den Arm schützend um die Schulter eines hübschen blonden Mädchens gelegt hatte. Emilie erkannte die Kleine von dem Porträt im Pariser Arbeitszimmer ihres Vaters. Es war seine Schwester Sophia. In dem Kuvert steckte außerdem eine aus einem Notizbuch gerissene Seite … Als
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