Der Leberwurst-Mörder
Huhn.
»Aus! Aus! Aus!«, kreischt sie weiter, und ihre Stimme überschlägt sich, sodass sie sich fast verschluckt und erschrocken nach Luft schnappt. Endlich dringen Jules und Maras Rufe an mein Ohr. Auch von ihnen kommt deutlich der Befehl: »Rika, aus!«
Ein Hund sollte wissen, wann es sich lohnt, zu kämpfen, und wann es besser ist, aufzugeben. Ich ergebe mich der menschlichen Übermacht, lasse das Huhn los und setze mich brav auf meine Hinterläufe. Zwar bin ich enttäuscht, aber auch gespannt, was als Nächstes passieren wird.
Jules und Maras Rufe verstummen, die beiden eilen am Zaun entlang auf das Tor zu. Die Indianerschwester lässt mein Halsband los, wirft einen Blick auf das reglos am Boden liegend Huhn und eilt ebenfalls auf das Tor zu, nur von der Innenseite des Hofes. Schön wäre, wenn sie dabei genauso ruhig bliebe wie Mara und Jule.
Doch nach der kurzen Atempause schimpft und zetert sie schon wieder weiter. Abermals verstehe ich nur einzelne Worte, höre aber deutlich
Mörder, Bestie
und
Verbrecher
heraus. Oh je, meint die schimpfende Federfrau etwa mich? Aber ich musste das Huhn einfach verfolgen, es hat mich provoziert.
Mara und Jule stehen draußen vor dem Tor, das ihnen, wie der Zaun, nur bis zur Brust reicht. So können sie der Frau direkt in die Augen schauen, die ihnen im Hof gegenübersteht und über das geschlossene Tor hinweg weiterschimpft. Während Jule versucht, die Frau zu beruhigen, sitze ich regungslos da, wie eine Hundestatue, und beobachte die drei Frauen ganz genau. Trotzdem nehme ich aus dem Augenwinkel plötzlich eine Bewegung wahr. Das tot geglaubte Huhn erhebt sich, flattert ein paar Mal mit den Flügeln, wie um auszutesten, ob sie noch dran sind, und rennt dann laut gackernd und flügelschlagend auf die Scheune zu.
Plötzlich ist es ganz still. Das gackernde Huhn hatte auch die Blicke der drei Frauen am Tor auf sich gezogen. Nun, da es in der Tiefe der Scheune verschwunden ist, wenden sich die Gesichter der Menschen dem Hund zu, der immer noch brav auf seinen Hinterbeinen sitzt – nämlich mir. Ich bin etwas irritiert, weiß nicht, wie ich reagieren soll, deshalb warte ich weiter ab und lecke mir unauffällig ein paar winzige, verräterische Hühnerfedern vom Maul.
Die Federfrau beendet die seltsame Stille, indem sie anfängt, schallend zu lachen. Dabei zeigt sie mit dem Finger auf mich, was mich noch mehr verunsichert. Als sie dann das Tor öffnet, um Jule, Mara und Flocke hereinzubitten, erlöse ich mich selbst aus meiner Starre und stürme freudig schwanzwedelnd auf Jule zu.
Alle scheinen erleichtert, dass nichts Schlimmes passiert ist, und sogar die Indianerschwester ist wie ausgewechselt. Sie lacht und versucht, Jule davon abzuhalten, mit mir zu schimpfen.
»Rikarda ...«, weiter kommt Jule nicht.
»Nun lassen Sie den armen Hund doch. Es ist doch alles gut ausgegangen.« Die Federfrau schiebt sich zwischen Jule und mich und tätschelt mir den Kopf. So, wie sie das macht, hab ich es eigentlich nicht so gern. Aber besser, als wenn Jule mit mir schimpft, finde ich es allemal.
»Ich bin Yvonne«, sagt sie und hält Jule und Mara die Hand zur Begrüßung hin.
»Ja, ich wei ... bin Jule, und das ist meine Freundin Mara.«
Oh je, da hat Jule gerade noch die Kurve gekriegt!
Yvonne erklärt, dass sie Hunde über alles liebt und nur deshalb so ausgerastet sei, weil Hertha ihre beste Legehenne ist.
Wieder und wieder streicht sie mir über den Kopf, flüstert dabei:
Du schöner, schöner Hund!
und schaut mich ganz verliebt an. Es sieht lustig aus, wenn ich zu ihr hochblicke. Die bunten Federn scheinen direkt aus ihrem Kopf zu wachsen.
Mara besinnt sich als Erste, warum wir überhaupt hier sind, und lenkt das Gespräch von Hunden über Tiere im Allgemeinen hin zu Katzen.
Yvonnes Lächeln verschwindet, sie schaut immer wieder zum Haus, als fürchte sie sich davor, bei etwas Verbotenem erwischt zu werden. Vorsichtig zieht sie Mara am Arm weiter in Richtung Garten, weg vom Haus.
»Habt ihr Katzen?«, fragt sie.
»Ja, warum fragst du?«, kontert Jule, und ich kann leichtes Misstrauen in ihrem Blick erkennen.
Yvonne läuft noch ein paar Schritte weiter auf den Garten zu, dann sagt sie leise: »Ich hab Ärger mit meinem Mann. Wegen einer Katze. Ich musste sie wieder fortgeben.«
»Was?« Mara tut sehr erstaunt. »Der Mühlenhof ist doch der perfekte Ort für eine Katze.«
»Das stimmt«, gibt Yvonne zu. »Aber mein Mann mag Katzen nicht besonders. Und diese eine
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