Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
die richtigen Schuhe an, um in die Senke hinabzusteigen, wo das Sträßchen in einen Schotterweg überging und das Unkraut spross, eine natürliche Grenze zwischen Weinberg und Olivenhain. Ich hätte welche mit Schnürsenkeln gebraucht, Tennis- oder Turnschuhe mit einer kräftigen Sohle, durch die meine Füße vor den Unebenheiten des Bodens geschützt worden wären.
Stattdessen trug ich dünne Sandaletten aus hartem Kunststoff. Sie saßen nicht gut, weil die Riemchen locker waren, und jeder Schritt kam mir wie der Versuch vor, noch einmal laufen zu lernen.
»Du bist zu langsam«, sagte mein Vater, der zwei Meter vorausging, dann stehen blieb und auf mich wartete. »Was ist denn heute mit dir los?«
Ich traute mich nicht, auf die Schuhe zu deuten, die ich ja selbst ausgesucht hatte.
»Komm jetzt, wir sind gleich da.«
Mit Mama zusammen zu sein war anders. Sie war auf ganz natürliche, selbstverständliche Weise einfach da. Ihre Gegenwart erfüllte die Zimmer und nahm sie ein, wie der Backofen in der Küche, wie die Waschmaschine im Badezimmer, wie die Bettvorleger im Schlafzimmer.
Papa war nie zu Hause. Die Woche bedeutete Arbeit, der Sonntag Gärtnern. Wenn wir zur Großmutter zum Mittagessen gingen, schauten wir bei ihm vorbei, kamen ihm beim Gießen der Pflanzen ins Gehege. Mein Bruderwar hinter den Raupen auf den Baumstämmen her, zerquetschte sie in den Händen, bis sich seine Finger grün färbten und Mama sie ihm unter der Pumpe abwaschen musste.
Mein Vater unterhielt sich mit ihr und kümmerte sich nicht um uns. Nichts von mir ging ihn etwas an, abgesehen von der bizarren Form, die seine Gene auf dem Weg durch das Blut angenommen hatten. Und er war völlig eins mit dem Erdreich, den Pflanzen, ein Geruch aus Obst, Holz und Schweiß, der auf der Haut trocknet. Nachdem er vierzig Jahre lang so gelebt hatte, war er zu einem Ackertier geworden, und selbst zu Hause glichen seine Geräusche denen von Blättern, Nagetieren, Vögeln.
»Nun? Was sagst du dazu?«
Seitlich der kleinen Straße, wo ein alter, knorriger Olivenbaum den längsten Schatten auf die schmale Allee warf, hatte Papa das Unkraut ausgerissen. Um den höchsten Ast des Baumes war ein leuchtendes Gummiseil gewunden, zwischen dessen Enden ein Brettchen aus ungehobeltem Holz befestigt war. Eine Schaukel.
»Sie ist toll.«
Das war sie. Ich trat näher heran, als ob ich mich hätte vergewissern müssen, wie man sie benutzt, damit er nicht enttäuscht war.
»Siehst du, wie steil es hoch geht? Wenn du dich von dort hinten abstößt, dann pass auf, dass du nicht in den Weinberg fliegst.«
Ich nahm so viel Anlauf wie möglich. Mein Vater schaute über seine Schulter zurück, als hätte ihn jemand gerufen.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und schloss die Augen, eine Trapezkünstlerin ohne Netz und ohne Publikum. Bereits damals hielt ich es für selbstverständlich, dass bestimmte Dinge von allein geschehen.
Das erste Hinausschwingen verschlug mir den Atem: Ich hatte das Gefühl, zu fallen und im letzten Moment von einer größeren Kraft festgehalten zu werden.
Das Schwindelgefühl verdoppelte sich bei jedem Zurückschwingen: Mein gesamter Körper wurde hinausgeschleudert und festgehalten, entglitt meiner Kontrolle. Währenddessen entfernte sich Papas Hemdrücken, wurde zu einem weiteren Weinstock mit einem um den Stamm gewickelten Stück Stoffs, um die Vögel fernzuhalten.
Um an ihn heranzukommen, musste ich instinktiv die Beine ausstrecken.
Es funktionierte. Ich schaukelte immer höher und fühlte mich immer leichter. Mit einem Schwung näherte ich mich meinem Vater, mit dem nächsten, größeren und entgegengesetzten, entfernte ich mich von ihm, weil er es nicht verdient hatte.
Als ich mit den Füßen in die Luft trat, verlor ich plötzlich die rechte Sandale: Ich sah zu, wie sie, einem verletzten Vogel gleich, eine Parabel beschrieb, von einer Hecke zurückprallte und zu Boden fiel. Anfangs störte mich die Luft um den nackten Fuß, die Asymmetrie der Wahrnehmung. Dann dachte ich nicht mehr daran.
Ich schaukelte weiter und beugte mich nach vorn. Da sah ich, wie sich auch die andere Sandale zu lösen begann und um die Ferse herumschlotterte. Ich spürte, wie sie sich an die Zehen klammerte, die sie festzuhalten versuchten, bis sie sie loslassen mussten, und es war, als wäre sie nie dort gewesen. Der dumpfe Schlag, mit dem sie auf das Sträßchen fiel, klang wie das Geräusch von etwas Totem, Nutzlosem.
Mir war schwindelig, und doch
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