Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
jemand zum Tisch der Kommission, um das Dokument vorzuzeigen, den Lehrauftrag anzunehmen. Der Kandidat oder die Kandidatin hatte einige Sekunden Zeit, um zu antworten: Wenn sich keiner meldete, hob der Vorsitzende einen Moment lang die Augen, ehe er sie wieder auf die Liste senkte.
Du musst nicht selbst erscheinen , hatte mir Anna erklärt. Mit einer Vollmacht kannst du jede beliebige verfügbare Stelle akzeptieren.
Als wir um uns blickten, die aufgerufenen und die übrig gebliebenen Kollegen zählten und sie mit der Anzahl der noch zu vergebenen Stellen verglichen, machten wir uns weiterhin Illusionen: Dutzende, vielleicht an die hundert unsichtbare Kandidaten füllten den Raum und warteten darauf, an uns vorbeizuziehen, glücklich, sich einen Arbeitsvertrag bis Juni gesichert, es trotz allem auch dieses Jahr geschafft zu haben.
»Signora, Sie müssten für die nächsten beiden Stunden in die 1B gehen.«
Signora Maria reicht mir den heutigen Lehrplan in Form eines Zettelchens.
Ich hole Luft: Keine Überstunden, hat De Lucia gesagt, keine Vertretungsstunden, in denen andere arbeitslose Kollegen arbeiten und bezahlt werden könnten.
»Wer fällt aus?«
Die Hausmeisterin zuckt mit den Schultern, als ob sich hinter der Frage eine Unterstellung verberge, die sie kränkt.
»Die Mattazzi. Sie ist mit der 1A unterwegs.«
Ich nehme den Zettel und stecke ihn in meine Umhängetasche.
»Na dann. Danke, dass Sie mir Bescheid gegeben haben.«
Ich konzentriere mich und gehe in Richtung 1B. Bei jedem Schritt im Gang treten meine niedrigen Absätzefest auf, hinterlassen ein schallendes Geräusch, das von den Wänden widerhallt. Ich bereite meine Stimme darauf vor, sicher zu klingen.
Ich betrete das Klassenzimmer der 1B und brauche nur ein paar Sekunden, um mir eine Vorstellung von der Klasse zu machen: Einige erheben sich, andere haben ihren iPod im Ohr und den Kopf auf den Tisch gestützt, außerdem gibt es die Nervensäge, die versuchen wird, mich in den nächsten zwei Stunden um den Verstand zu bringen.
»Entweder alle oder keiner«, erkläre ich mit Blick auf die fünf oder sechs Schüler, die aufgestanden sind, und die restlichen, die auf ihren Tischen herumlümmeln.
Letztere lächeln, erheben sich langsam von ihren Stühlen. Ich lächle ebenfalls und lasse sie wieder Platz nehmen. Rasch unterschreibe ich im Klassenbuch, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ich denke, dass die 1B wie die 1A ist. Und beide sind wie die 1F vor zwei Jahren. Und alle sind wie die 1E von damals, als ich im Gymnasium war. Der einzige wirkliche Unterschied ist Riccardi. Aber ich vermute, dass auch die Riccardis untereinander gleich sind.
»Kann mir jemand ein Italienischbuch geben?«
»Wir lesen doch nur«, sagt die Nervensäge, die ich dank der Eintragungen im Klassenbuch sofort als Pierluigi Dente identifiziere.
Ich strecke die Hand aus.
»Noch besser.«
Dann also Unterricht. Wir rufen uns noch einmal die Vorgeschichte der Ilias ins Gedächtnis und lesen die wichtigsten Passagen, die sie bereits frei wiedergeben können. Unter dem Panzer ihrer Trägheit und des mangelnden Interesses für das Fach, entdecke ich die Arbeit, die Silvia geleistet hat, die unternommenen Anstrengungen, um diese jugendliche Abwehr zu durchbrechen, in diese kaum benutzten Gehirne das zu säen, was irgendwie möglich ist.
Dann stelle ich ihnen Fragen. Ich spiele mit der homerischen Frage, indem ich sie als ein Rätsel darstelle, das wir lösen können. Ich versuche, die Geschichte in die Mythologie einfließen zu lassen, ohne eine von beiden zu entstellen.
Nach und nach entspannen wir uns. Einige Finger fahren hoch. Pierluigi fragt nicht mehr, ob er rausgehen darf. Ich sehe keine eingeschalteten iPods, und auch die Handys sind wieder in den Taschen verschwunden.
»Wir mussten bis heute einen Aufsatz über Hektor und Andromache schreiben«, gesteht die Blondine in der ersten Bankreihe.
»Dann lass hören.«
Sie haben die Stelle gelesen, in der sich der Held von Frau und Sohn verabschiedet, bevor er in den Kampf zieht. Und das, obwohl er weiß, dass er bald sterben muss, und trotz Andromaches wiederholter Versuche, ihn zum Bleiben zu bewegen. Wer hat Recht?
»Die Frau«, antwortet Pierluigi wie aus der Pistole geschossen. »Weil die Familie Vorrang hat.«
Fast alle sind seiner Meinung. So ziemlich alle.
Egal, ob sie sich die Haare grün färben, Tattoos oder Emo-Ponys tragen, wenn sie den Mund aufmachen, geben sie die Wertvorstellungen wieder, die
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