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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giusi Marchetta
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gleichzeitig Hoffnung verbreitend und zunichte machend, beobachtete ich meine Kollegen und erkannte viele wieder. Da war der Lehrer, der aus dem Süden kam. Wenn er gekonnt hätte, wäre er an der Uni geblieben. Da war die junge Mutter mit dem Kind im Arm. Bei einer Jahresvertretung hätte sie es nach Norditalien mitgenommen, und die beiden anderen zu Hause bei ihrem Mann zurückgelassen. Da waren die examinierten Kollegen und Kolleginnen, die schon vor zehn Jahren an dem Auswahlverfahren teilgenommen hatten, da waren die an den pädagogischen Hochschulen Ausgebildeten. Da gab es den einen oder anderen, der seit vielen Jahren in befristeten, nicht verlängerbaren Verträgen unterrichtete. Da war so mancher, der viel gezahlt und wenig studiert hatte. Da war einer, der sich immer mit irgendwelchen Jobs über Wasser halten würde. Da war ich. Alle waren da.
    Und wie in jedem Jahr würden sich die Lehrer, die sich in einer anderen Stadt beworben hatten, auf ebendiese Weise zusammenfinden und darauf warten, von einem Kommissionspräsidenten aufgerufen zu werden, der dem unseren aufs Haar glich. Darunter stellte ich mir vor: Horden von Zeitarbeitern, zusammengekarrt in einer imaginären riesigen italienischen Aula, wo man stundenlang auf den Ausgang der Einberufung warten musste.
    Ich beobachtete, wie der Präsident seine Bewerbungslisten beiseitelegte, die Brille abnahm, sich mit bedauernder Miene dem Mikrofon näherte: »Es sind nun keine Stellen mehr zu vergeben.«
    Ich hörte Anna, ihre trockene Stimme.
    Nur, dass sie uns wieder nicht aufrufen werden. Dieses Jahr werden sie uns nicht aufrufen.
 
    Für den letzten Tag vor den Weihnachtsferien hat die Schule keinen regulären Unterricht vorgesehen. Andere Inhalte stehen auf dem Programm. Mattias Klasse ist mit einem Film über den Holocaust dran.
    »Aber warum haben sie die Juden getötet? Was haben sie denn getan?«
    »Absolut nichts, Mattia. Auch die Zigeuner und die Homosexuellen wurden in die Konzentrationslager gebracht, nur weil Hitler sie hasste.« Meine Stimme ist schwer, ein Felsblock.
    »Es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als Hass«, sage ich. Das hätte auch Jim Morrison gesagt.
    Mattia blickt nachdenklich drein.
    »Stimmt es, dass sie sogar die Behinderten umgebracht haben?«
    Lass dir Zeit , empfiehlt Biagini.
    »Wer hat dir das erzählt?«
    »Die anderen.«
    Ok.
    »Du musst wissen, Mattia, das Wort ›behindert‹ gebrauchen nur Leute, die keine Ahnung haben. Deshalb verwendet man es schon seit Langem nicht mehr, verstehst du? Schau, eine Behinderung bedeutet eine Schwierigkeit, und irgendwelche Schwierigkeiten haben wir alle. Aber das ist nicht der springende Punkt: Ein Mensch besteht nicht nur aus seiner Schwierigkeit. Er ist alles Mögliche, und unter anderem jemand, der eine Schwierigkeit hat . Für dieses oder jenes ist er nicht geeignet, für andere Tätigkeiten aber sehr wohl. Verstanden?«
    »Ja.«
    Ich habe ihn überzeugt.
    »Haben sie also auch die Behinderten in den Konzentrationslagern umgebracht?«
    Ich habe Mühe, zwischen den Grüppchen von Schülern hindurchzukommen, die den Flur bevölkern, zum Ausgang drängen.
    Ich gehe in den ersten Stock hinunter, biege um die Ecke, und da sehe ich ihn auch schon vor mir, wie er sich gegen den Getränkeautomaten lehnt. Die Schultern schwanken hin und her, der Kopf wippt auf und ab, und auch die Arme halten nicht still: Riccardi ist glücklich, zufrieden oder irgendetwas dergleichen.
    Ich beschleunige den Schritt.
    »Hey«, murmele ich, ohne mich umzudrehen.
    Er hebt den Kopf.
    »Hey«, sagt er.
    Ich gehe langsamer, spüre, wie sich etwas in meiner Brust zusammenrollt.
    »Wir sehen uns im Januar«, sage ich, wende mich kaum um.
    Riccardi folgt mir.
    »Nein«, brüllt er. Dann läuft er neben mir her.
    »Wann sehen wir uns?«, fragt er.
    »Im Januar«, wiederhole ich, husche in Klassenzimmer 9, ziehe die Tür hinter mir zu und lasse ihn draußen stehen.
    Drinnen überrasche ich Grazia und De Lucia, die verstummen, als ich die Tür öffne.
    Auf dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers türmen sich Plakate, Verlängerungskabel, und Pappkartons mit der Aufschrift SANTOJANNI .
    »Macht's gut, ich muss weg«, sage ich und in vielerlei Hinsicht denke ich das auch.
    »Bleib noch einen Moment«, entgegnet Grazia. »Wir müssen etwas besprechen.«
 
    Das Händewaschen nach dem Nachhausekommen hat etwas Zwanghaftes, Gestörtes, was ich mir nie angewöhnen wollte.
    Aber die Schule ist schmutzig.
    Während

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