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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giusi Marchetta
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sie von ihren Eltern, den scheinheiligen Romanen, den Fernsehfilmen übernommen haben.
    »Aber wenn Falcone und Borsellino so gedacht hätten, wie ginge es uns dann heute?«, frage ich.
    »Noch schlechter als jetzt«, antwortet Pierluigi und bringt uns damit alle zum Lächeln.
    Mein süditalienischer Akzent weckt ihre Neugier, obwohl er den meisten von ihnen nicht ganz fremd sein dürfte. Sie versuchen, meine Herkunft zu erraten, und schaffen es nicht. Viele ihrer Eltern sind schon seit einer Ewigkeit hier in Turin, und das, was vorher war, einschließlich des Dialekts, haben sie verdrängt. Andere hingegen sind im Herzen Sizilianer, Puglieser, Kalabresen, Kampaner geblieben, und der Turiner Akzent ihrer Kinder kommt ihnen wie ein Verrat vor, mit dem sie nicht gerechnet hatten.
    Ich merke, dass ich über ein fremdes Land spreche: Von diesem fernen, leicht exotischen Italien wissen die Schüler der 1B nicht viel. Beim Gedanken an das in der Nachttischschublade sicher verwahrte Flugticket wird mir wohler. Es ist fast geschafft.
    »Sie haben also das Gymnasium besucht?«, fragt das blonde Mädchen.
    »Ja, ein humanistisches.«
    Aus dem Hintergrund ertönt höhnisches Gelächter. Natürlich.
    »Und wie ist es da gewesen?« Sie lässt nicht locker. Wahrscheinlich hat sie das Gefühl, die falsche Schule gewählt zu haben.
    »Wieso fragst du denn so viel?«, fährt Pierluigi sie an. »Sie ist Lehrerin: Sie wird bestimmt eine Streberin gewesen sein. Nichts für ungut.«
    Ich bin nicht beleidigt, sondern stehe auf und schreibe einen Satz von Thukydides an die Tafel, auf Griechisch. Einige Sekunden lang verharren alle mucksmäuschenstill vor der geheimnisvollen Form der etwas krumm geschriebenen Schriftzeichen.
    »Die Geschichte ist ein ewiger Besitz«, lese ich.
    Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Gewiss nicht, um zu beweisen, dass ich keine Streberin bin.
    »Das gilt auch für andere Dinge, was weiß ich, Freundschaft, Liebe. Die Schule.«
    Pierluigi schneidet eine Grimasse.
    »Die Schule ist ein ewiger Besitz?«
    Die wahre Schule, denke ich. Ja.
    »Sicher«, sage ich. »Wenn du nicht aufhörst, ständig durchzufallen.«
    Alle grinsen, er auch. Die Pausenglocke ertönt und befreit sie von meiner Gegenwart.
 
    Mit einer unangenehmen Unruhe in den Beinen komme ich in Klassenzimmer 9. Ich stelle mich vors Fenster und betrachte mein Spiegelbild.
    Ein bisschen Griechisch, schief auf die Tafel geschrieben, hat gereicht. Im Geiste gehe ich noch einmal den Satz durch und stelle fest, dass ich die Akzente durcheinandergebracht habe. Meine Fächer drohen mir zu entgleiten.
    »Ich bin immer noch Lehrerin«, sage ich laut. Zu laut.
    Die Belcari, die soeben das Zimmer betreten hat und nun Tasche und Klassenbücher auf den Tisch legt, muss es gehört haben.
    Um es ungeschehen zu machen, erzähle ich ihr lange von Mattia. Ich will, dass sie mir mein Versagen bei Riccardi verzeiht.
    Sie lässt mich eine Weile reden, dann hebt sie die Hand. Das reicht jetzt.
    »Wir haben momentan Probleme, Santojannis Förderung zu finanzieren. Die Schule zahlt nicht, und die vom Ministerium haben uns zu verstehen gegeben, dass wir sehen müssen, wie wir klarkommen.«
    »Aber was gibt es denn für eine Alternative?«
    Sie sieht mich nicht an, blättert im Notizbuch und ersetzt einen Stundenplan durch einen soeben ausgedruckten.
    »Für mich keine. Ihrer Meinung nach sollen wir die Zahl der schwereren Fälle verringern. Oder sie behalten, aber ohne Inklusionslehrer.«
    Sie haben beschlossen, haben gesagt, getan. Als wären sie ein außerirdisches Wesen, etwas, das von hoch oben herabgefallen ist und uns seine eigenen Gesetze diktiert.
    Die neuen »Besucher«: sie.
    Die Belcari hält die Augen gesenkt, trommelt mit dem Finger auf das Notizbuch.
    »Ich muss wieder zu Santojanni. Mir bleibt keine andere Wahl.«
    De Lucia unterbricht uns, als er freudestrahlend hereinkommt.
    »Gesund und munter zurück. Das Museum ist wirklich eine tolle Sache. Andrea war überaus brav, sie haben viel Spaß gehabt.«
    Aus seiner Jackentasche zieht er eine kleine digitale Videokamera.
    »Er hat sogar ein Video gemacht, von sich aus: Ich speichere es auf dem Computer ab, so geht es uns nicht verloren.« Das gezwungene Lächeln der Belcari nimmt er nicht wahr und auch nicht, wie sie ihre Hände gegeneinander reibt, als ob sie etwas loswerden wolle, das auf der Haut brennt.
 
    Fünfzigtausend Arbeitsplätze gestrichen.
    Während der Kommissionsvorsitzende uns aufrief,

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