Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Wir gehen zusammen zu meiner Haustür. Anna lacht, macht sich über mich und meinen schweren Koffer lustig.
Ich habe das Gefühl, rechtzeitig weggezogen zu sein und dabei zugelassen zu haben, dass sie statt mir bestraft wurde. Es ist ein intensives Gefühl, unangenehm und fremd. Ich kenne es gar nicht an mir.
Nach und nach wurde uns eingeimpft, dass wir auf Kosten anderer arbeiten. Dass die Leute von Stadt zu Stadt ziehen, um anderen die Arbeit wegzunehmen. Dass selbst diejenigen, die eine Arbeit haben, die sie ankotzt, sich nicht beklagen dürfen, weil es Menschen gibt, die keine haben.
»Woran denkst du?«
Ich denke an Margherita: Der Kuchen, den wir uns teilen, ist nicht zu klein, er ist giftig.
»An nichts. Was hast du gesagt?«
»Nicht wichtig. Aber ich muss dir was erzählen: Es ist doch Hoffnung in Sicht. Es scheint jedenfalls so.«
Ich sehe sie lächeln, als ob sie etwas Verbotenes getan hätte und es nicht erwarten könnte, davon zu erzählen.
»Ich weiß es noch nicht sicher. Aber sobald ich es weiß, erfährst du es als Erste.«
In Ordnung, ich werde warten: Diese Hoffnung mildert mein Schuldgefühl ein wenig.
Wir verabschieden uns, und ich stehe allein vor dem Haus, in dem meine Eltern wohnen. Das Holz der Haustür ist ganz abgesplittert. Die weißen Schrammen ziehen sich von unten nach oben und verdichten sich entlang der Türöffnung, als habe sich ein Raubtier mit seinen Krallen genau auf diese Stelle gestürzt.
Als ich auf dem Treppenabsatz ankomme, hat meine Mutter bereits die Tür geöffnet.
»Wie lange hast du gebraucht?«, fragt sie.
Vier Monate sind wie im Flug vergangen. Ich habe meinen Chef gebeten, einige Dienstreisen machen zu dürfen, und er hat mich jede Woche woanders hingeschickt. Einmal war ich sogar in Istanbul, um noch am selben Tag zurückzufliegen. Ich bin zwar ständig todmüde, aber unterwegs sein ist es wert. In der Wohnung fällt mir die Decke auf den Kopf. Du hast nichts dagelassen, sei unbesorgt. Es ist nur der verdammte Küchentisch, der bei mir Übelkeit hervorruft . Nicht einmal das Bett. Der Küchentisch. Du rechnest schließlich nicht damit, dass dir ein Tisch Messerstiche versetzen kann. Aber unserer tut es.
Papa räumt das Schiffsmodell, an dem er derzeit bastelt, von meinem alten Bett. Er hat die Einzelteile auf einem tragbaren Brett verteilt, um nachmittags hier daran zu arbeiten oder im Wohnzimmer, wenn sein Krimi beginnt.
»Du kannst es auf den Schreibtisch stellen.«
Er hört mir nicht zu, dreht sich um, sucht nach einer Stelle, wo er es abstellen kann, findet keine.
»Warte, ich mach dir Platz.«
Ich nehme die Wörterbücher, Hefte, Schulbücher meines Bruders vom Schreibtisch und staple sie auf dem Boden. Das Nähkästchen meiner Mutter lasse ich in einer Schublade verschwinden. Geschafft.
Vorsichtig setzt er das Brett auf dem Schreibtisch ab.
Sobald Pietro die Wohnung betritt, ruft mein Vater nach ihm.
»Räum dein Zeug woanders hin.«
Mein Bruder umarmt mich, verspricht, es später zu tun.
Nachdem ich mich einigermaßen eingerichtet habe, dusche ich, ziehe mich an und gehe zu meiner Mutter in die Küche: Sie näht gerade den Saum eines Rockes fest, den sie, wie ich schon weiß, nicht anziehen wird, weil sie ihn im letzten Moment doch für zu kurz und zu bunt hält. Ich setze mich ans andere Ende des Tisches, blättere in der Fernsehzeitschrift.
»Hast du Hunger?«
»Nein, danke«, sage ich.
Sie sucht einen bestimmten Punkt auf dem Stoff und stößt mit der Nadel darauf. Ich weiß nicht mehr, auf welche Frage ich gerade geantwortet habe.
Die Feiertage verzerren alles. Gekünstelt sind der Fischkauf, das Essen am Heiligen Abend, und die Krippe ist ein unwirkliches Gebilde, das bis zum Dreikönigsfest eine Ecke des Wohnzimmers in Beschlag nimmt. Drei Tage lang wird alles aufgeschoben: Diskussionen über Gegenwart und Zukunft, bürokratische Angelegenheiten, persönliche Ängste.
Dann ist plötzlich der siebenundzwanzigste Dezember da, und wir sitzen bei Tisch, um über Turin und die Möglichkeiten, dort zu bleiben, zu sprechen.
»Für immer, meinst du das ernst?«
Mein Vater sieht mich an, während er den Suppenlöffel zum Mund führt.
»Ich weiß es nicht.«
Pietro nutzt die kurze Stille, um den Fernseher lauter zu stellen. Meine Mutter schaltet ihn aus.
»Wer soll es dann wissen?«, fragt Papa.
»Sind wir fertig?«
Meine Mutter mischt sich ein, filtert, vermittelt. Ohne sie hätten wir nichts miteinander
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