Der leiseste Verdacht
verschiedene Lieblingsgerichte.
Plötzlich hatte sie ein Bild von Marika vor Augen, wie sie als kleines Mädchen neben ihr in der Küche stand und eifrig beim Abtrocknen des Geschirrs half. Eine Erinnerung, die in Katharina eine Woge des Glücks auslöste, die alle Sorgen für einen Moment hinwegspülte und in einem stillen Lächeln ihren Ausdruck fand. Es folgte ein zweites Bild, das weniger deutlich, doch unschwer zu entschlüsseln war. Marika und sie bei einem Spaziergang an dem im Sonnenlicht funkelnden See, in intensivem Gespräch, das nur durch gelegentliches
Blumenpflücken unterbrochen wurde. Es gab Katharina einen Stich, als sie begriff, dass die kleine Marika, die vor ihr 393
zwischen den warmen Baumstämmen hindurchlief, kaum älter als fünf Jahre alt war.
Hatte sie ihn also wieder mal betreten, diesen wehmütigen inneren Raum ihrer Seele, in dem beglückende und bittere Erinnerungen so nah beieinander lagen. Sollte ihre achtzehnjährige Tochter heute auf die Idee kommen, einen Spaziergang am See zu machen, würde sie sich nicht ihre Mutter, sondern Daniel als Begleiter aussuchen, was nicht nur verständlich, sondern vollkommen natürlich war. Nach diesem Gedanken verstrickte sich Katharina einmal mehr in einen inneren Kampf, der letztlich in eine tröstliche Einsicht mündete, die ihr nicht neu war.
Unwillkürlich sprach sie es aus, während sie an die Decke blickte: »Die Befreiung ist wechselseitig.«
Patrik regte sich.
»Was sagst du?«, murmelte er.
»Die Befreiung ist wechselseitig.«
»Was?«
Katharina streckte den Arm aus und verscheuchte die Fliege auf seinem Bart. Sie strich ihm flüchtig über die Stirn und sagte:
»Ach, nichts. Ich habe an Marika gedacht.«
Patrik nahm ihre Hand und führte sie über seine weichen Lippen. Er öffnete ein Auge und sah sie an. Sie lächelte ihm zu, und zum ersten Mal seit langem tat sie es ohne Vorbehalte. Sie wunderte sich selbst über ihre Innigkeit, und als wolle sie prüfen, ob diese Bestand hatte, gab sie dem spontanen Impuls nach, seinen unwiderstehlich sinnlichen Mund zu küssen.
Danach kam es, wie es kommen musste. Er zog sie rasch unter seine Decke, und für die nächste halbe Stunde versanken sie vollkommen in ihrer Leidenschaft und dem erlösenden Gefühl, sich nach einer leidgeprüften Zeit endlich wiedergefunden zu haben. Dann schliefen sie eng umschlungen wieder ein.
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Sie erwachten beide durch das Klingeln des Telefons in der Diele, machten jedoch keine Anstalten, an den Apparat zu gehen. Als das Klingeln verstummt war, sagte Katharina: »Was für ein wunderbares Gefühl!«
»Was? Nicht ans Telefon gehen zu müssen?«
»Nein, dass endlich alles vorbei ist. Dass man keine Angst mehr vor schlechten Nachrichten haben muss, wenn das Telefon läutet. Jetzt bin ich wieder mit einem unbescholtenen Mann verheiratet, der nicht unter Mordverdacht steht. Du ahnst ja nicht, wie beglückend das ist. Ehe dieser absurde Albtraum begann, habe ich vieles als selbstverständlich betrachtet. Jetzt sehe ich diesen Zustand als Gnade des Schicksals an. Es ist so befreiend zu wissen, dass nicht irgendwelche Polizisten in Stockholm gegen dich ermitteln und sich die Köpfe zerbrechen, wie sie dich hinter Schloss und Riegel bringen können.«
»Und keine gestörten Nachbarn mehr, die sich an der Frau des Hauses vergreifen …«
»Marco, oh Gott, ja …« Sie schauderte. »Es war wirklich eine Heimsuchung nach der anderen. Ich hoffe, Annika hat inzwischen erfahren, dass Marco für lange Zeit hinter Gittern sitzt, damit sie sich endlich wieder unbedroht fühlt. Als seine Ehefrau muss sie doch darüber informiert werden. Die Frage ist nur, ob sie Annika ausfindig gemacht haben.«
Sie sah, dass plötzlich ein Schatten über sein Gesicht huschte.
»Denkst du wieder an Axel?«
»Ja.«
»Tut er dir immer noch Leid?«
»Ja, irgendwie schon. Ich werde einfach nicht schlau aus ihm.
Er scheint mich wirklich zu hassen. Ich habe mir immer eingebildet, für solche Signale empfänglich zu sein, aber ich habe nie etwas bemerkt. Dachte immer, er wäre für solche Empfindungen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
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Sie fuhr mit den Fingern durch seine dichte Brustbehaarung und kniff sanft in eine Brustwarze.
»Du unterschätzt immer die Tiefe und Komplexität anderer Menschen. Das kommt daher, dass du ein so naives und egozentrisches Wesen bist und zwangsläufig davon ausgehst, dass alle interessanten Gefühle und Gedanken ausschließlich deinem
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