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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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bis dreihundert Milliliter zubereitet. Die ideale Menge ist ein
gehäufter Teelöffel, den man zehn bis zwanzig Sekunden ziehen lässt. Er kann
sieben bis acht Mal aufgegossen werden. Irgendwann werde ich auch diese letzten
Blätter genießen. Ich warte nur noch auf den richtigen Moment. Als Tim starb,
habe ich darüber nachgedacht, sie ihm zu Ehren aufzubrauchen. Aber solch einen
Tee sollte man nicht zu einem traurigen Anlass trinken, sondern zu einem
fröhlichen, oder?«
    In diesem Moment drehte sich Benno wieder vom Rücken auf die Beine,
sprang mit einem entschlossenen Satz zu Bietigheims Hand – und verschlang die
letzten Blätter Da Hong Pao im gesamten Vereinigten Königreich.
    Nach kurzem Kauen spuckte er sie wieder aus.
    Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck.
    Erst im Nachhinein erfuhr der Professor, was in der Zwischenzeit
passiert war: Rena hatte ein spezielles Dekodierprogramm gestartet, das nun
einige Zeit vor sich hin laufen würde. Dann war sie ins Institut gefahren, denn
Pit hatte ihr verraten, dass im dortigen Archiv noch keine detaillierte
Spurensuche stattgefunden hatte. Rena liebte es, Dinge zu ordnen und zu
katalogisieren. Früher hatte sie in einem Supermarkt gejobbt und sich immer als
Einzige für die Inventur gemeldet. Viel mehr noch liebte sie Archive. Das des
Instituts für Kulinaristik an der University of Cambridge enthielt nicht nur
Gedrucktes in Form von Büchern, Magazinen, Handouts, Karten oder Mikrofiches,
nein, es beinhaltete auch einen riesigen begehbaren Gefrierschrank mit
Lebensmittelproben, Samen und sogar komplett eingefrorenen Menüs, sodass auch
die Art der Anrichtung einer Speise auf dem Teller für die Nachwelt gesichert
war.
    Rena hatte sich wie im Paradies gefühlt.
    Da sie wusste, dass die Unterlagen der beiden toten Professoren in
Bietigheims Haus lagerten, hatte sie sich auf die Lebensmittelproben gestürzt,
war Regal für Regal durchgegangen und hatte sich alles angeschaut, übersah
selbst die in den hintersten Reihen verdeckt von anderen Proben stehenden
Artefakte nicht. Dabei hatte sie nicht nur die Beschriftung geprüft, sondern
auch die Inhalte.
    Und dann war sie fündig geworden.
    Als der Professor sein Büro betrat, saß Rena auf seinem Stuhl und
gönnte sich eine heiße Milch mit Honig samt Cookies – wohl wissend, dass der
Professor es lieber gesehen hätte, wenn Tee in ihrer Tasse gedampft hätte.
    Â»Das ist mein Stuhl«, sagte er statt einer Begrüßung. »Stehen Sie
bitte auf.«
    Â»Den Platz habe ich mir aber verdient.«
    Â»Womit? Dreistigkeit? Damit kommt man nicht weit, das lassen Sie
sich gesagt sein!« Dass er seine Hilfskraft immer noch erziehen musste! Dabei
wäre das die Aufgabe ihrer Eltern gewesen, doch die hatten offensichtlich
völlig versagt.
    Benno war aufgrund des Teeknabberns derart aufgedreht, dass er zum
ersten Mal seit Jahren wieder seinen Schwanz jagte, was ihm gleichermaßen
Freude und Verdruss zu bereiten schien. Als er endlich dieses freche Ding
zwischen den Zähnen hatte, machte ihn das auch nicht glücklich.
    Ganz im Gegenteil.
    Â»Sollten Sie nicht in meinem Haus sein und das Passwort, wie sagt
man, brechen?«
    Â»Knacken! Bin ich ja auch. In Form eines Computerprogramms. Quasi
virtuell. Es gibt mich jetzt also zweimal.«
    Â»Und Ihr anderes Ich hat sicherlich weitaus bessere Manieren.«
    Â»Aber es hätte niemals das hier gefunden.« Sie hob einen mit einem
Baumwolltuch bedeckten Keramiktopf empor, den sie hinter dem Tisch versteckt
hatte – und der immer noch vor Kälte dampfte. »Der komplette Fladen des
Pu-Erh-Tees, der in Kevins Tresor lag.«
    Â»Wie bitte?«
    Â»Genau wie Sie errochen haben: Teeblätter aus der Region Menghai,
von der dort ansässigen Menghai Tea Factory, aus dem Jahr 1980. Eigentlich
sollten sich im Archiv zwei davon befinden, doch einer ist offenbar
verschwunden, sein Verbleib ist nirgendwo dokumentiert. Vermutlich gestohlen.«
    Bietigheim trat näher. »Es muss nicht derselbe Fladen sein, es kann
sich um einen aus derselben Produktion handeln – auch wenn das ein großer
Zufall wäre.« Er sah sich die Beschriftung an. »Er lagert jedoch schon seit
drei Jahren im Archiv. Und …« Er musste es nicht aussprechen. Rena hatte sie ja
längst gelesen, diese vier Worte.
    Projekt: Die sechste Schale.
    Â»Bestimmt haben Sie ihn noch nicht gekostet!«, sagte

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