Der letzte Aufguss
Bietigheim
vorwurfsvoll. »Dabei müssen Sie immer daran denken, dass sich über die wahre
Qualität eines Tees erst etwas aussagen lässt, wenn er korrekt zubereitet ist.«
Ein breites Lächeln erschien auf Renas Gesicht, und sie hob eine
Teeschale, eine Kanne und einen Wasserkocher vom FuÃboden, um dann den
Pu-Erh-Tee unter den kritischen Augen Bietigheims nahezu fehlerlos
zuzubereiten.
Der Professor hätte es ihr nie so direkt gesagt, doch er wünschte
jedem Menschen eine Rena, die â egal wie trüb der Himmel oder das Leben war â
Optimismus ausstrahlte. Sie war ein Gute-Laune-Radiator. Lange ertrug man es
nicht, doch es war gut, sich immer wieder wärmen zu können. Und Bietigheim
brauchte diese Wärme dringend.
Nach seinem Ermittlungserfolg bei den französischen Käsereimorden
war er davon ausgegangen, den vorliegenden Fall schnell lösen zu können, da er
ja in Ãbung war. Doch mittlerweile gab es nicht nur zwei, sondern vier
ungeklärte Todesfälle, dazu einen verschwundenen Teemeister und etliche Verdächtige.
Allerdings spürte Bietigheim, dass die Aufklärung kurz bevorstand. Doch wie bei
der Zubereitung eines edlen Tees lieà sich auch hier keine schnelle Lösung
erzwingen, sonst wäre alles verdorben.
Rena reichte ihm die gefüllte Tasse.
»Sie wissen natürlich, dass Teeprobierzimmer viel Tageslicht haben
müssen, möglichst Nordlicht, damit die farblichen Unterschiede der Aufgüsse
korrekt beurteilt werden können. Ausnahmsweise muss es heute einmal anders
gehen.«
Er spreizte den kleinen Finger ab und schlürfte ein wenig von dem
rotbraunen Getränk, lieà es wie eine kleine Welle über die Zunge schwappen und
die Innenseiten der Wangen erkunden, bevor es den Schlund hinuntergleiten
durfte. Die Aromen tanzten noch eine ganze Weile auf seinem Gaumen und
entfalteten ihre erdige Würze.
»Miserable Qualität. Siebenhundertfünfzig Euro zahlt niemand für
diesen Fladen. Wie ist diese minderwertige Qualität in den Besitz des Instituts
gekommen?«
»Der entsprechenden Archivkarte zufolge wurde der Fladen über eine
dritte Person bei Kevin Shields erworben.«
»Gibt es noch anderen Pu-Erh-Tee im Archiv?«
Rena öffnete einen Block. »Siebenundfünfzig weitere, sowohl ältere
als auch jüngere, darunter andere aus dem Jahr 1980. Allerdings wurden nicht
alle bei Shields erworben, sondern ebenso bei Händlern in London oder in China
selbst.«
»Soweit ich weiÃ, hat weder der Earl noch Cleesewood etwas darüber
veröffentlicht. Das gilt es selbstverständlich zu überprüfen. Notieren Sie sich
das bitte.«
»Notiert.«
»Haben Sie zufällig auch Steintee gefunden?«
»Ja, diverse.«
»Ich meine den echten.«
Die Worte standen wie eine Fata Morgana im Raum, so als könnten sie
nicht echt sein.
»Den echten?« Rena sah ihn an. Und auch Benno blickte auf, als
erinnerte er sich, vor Kurzem Steinteeblätter verspeist zu haben.
»Also nicht. Vielleicht findet sich etwas in den Unterlagen. Da der
Earl darüber gearbeitet hat, wird er seine Forschungsergebnisse irgendwo
abgelegt haben.«
Rena zog einen Tablet-PC aus ihrem Rucksack. »Ich habe mir die
ganzen Daten von ihm auf eine externe Festplatte überspielt. Sekunde ⦠da ist es.
Allerdings gibt es nur einen Artikel von ihm zu diesem Thema, und der ist schon
älter. Wollen Sie sich den Text trotz â¦Â«
Bietigheim schob Rena zur Seite und überflog den Artikel. Vielleicht
war dieser mithilfe illegaler Recherche und Diebstahl erstellte Text der
Schlüssel zu den Morden. Vielleicht hatte jemand aus China eine sehr alte
Rechnung beglichen.
Mit Zinsen und Zinseszinsen.
Das Haus in der Pretoria Road stand leer, denn auch Pit war
unterwegs. Auf dem Beifahrersitz seines Taxis lag ein riesiger BlumenstrauÃ,
denn Pit hatte sich entschieden, den nächsten Schritt zu machen. Gut, ihm
selbst hätte es mehr imponiert, wenn eine Frau ihm ein perfektes Steak gebraten
hätte, aber bei der Damenwelt kamen ungebratene Blumen immer noch besser an â
vor allem wenn ein Schrank wie er sie überreichte. Da mischten sich Schock und
Dankbarkeit auf eine explosive Art. In dieser Hinsicht hatte er schon manche
Erfahrungen gesammelt.
Pit hatte sich von der Floristin beraten lassen, denn womöglich war
die englische Blumensprache etwas anders als die
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