Der letzte Aufstand
audiovisuell aufgezeichnet, was er getan hat: seine Aufgabe war es, im Forschungszimmer irgendwelche physischen Aktivitäten durch zu führen, also zu hüpfen, oder zu tanzen, oder sich hinzulegen und zu schlafen, oder den Kopfstand zu machen, und was auch immer er tat, hat er mit einer digitalen Videokamera aufgenommen. Zusätzlich erzählte er sich selbst eine Geschichte. Wir wollten auch untersuchen, ob ich von der anderen Seite her auditiv wahrnehmen konnte. Meine Aufgabe war also, in leibfreiem Zustand zu beobachten, was Mehmed tat, und zwar aus dem gleichen Blickwinkel wie die Kamera, und zugleich meine Ohren zu spitzen, um mitzukriegen, was für eine Geschichte er erzählte. Anschliessend haben wir meine Erlebnisse schriftlich festgehalten und sie dann mit den Aufzeichnungen auf der Kamera verglichen. Das war spannend ...“
Hatice holte kurz Luft und blickte in die Runde. Dann machte sie weiter.
„Im ersten Versuch erzählte Mehmed eine Geschichte von einem kleinen schwarzen Hund, während er an Ort und Stelle blieb und den rechten Arm kreisförmig bewegte. Was ich wahrnahm war, dass er sich im Kreis drehte und aus irgend einem Grund war Flying Shark mit ihm im Zimmer; er lag deutlich zwischen der Kamera und Mehmed und schaute Mehmet interessiert zu, wie er sich im Kreise drehte.“
Luc streckte kurz auf. „ Flying Shark war den ganzen Tag bei mir ...“
Hatice lächelte. „Ja, auf den Filmaufnahmen war er keinesfalls, aber in meinem Erlebnis auf der anderen Seite war er klar und deutlich zu sehen. Er hat mich sogar angewedelt, als er mich den Raum betreten sah.“
„Und was habt ihr für Schlüsse gezogen?“, fragte Helena.
Hatice liess Mehmed antworten. „Sowohl im ersten, als auch in den folgenden Versuchsanordnungen, hat Hatice wohl das Thema meiner Geschichte erkannt, als auch den grösseren Kontext meiner Bewegungen mitgekriegt, aber es war nie genau. Ihre Aufzeichnungen deckten sich kein einziges Mal mit dem Filmmaterial oder mit meinen Erinnerungen. Das gab uns natürlich zu denken. Wir sind noch zu keinem richtigen Schluss gekommen, aber wir haben unsere Vermutungen. Wir denken, dass der Betrachter eine Realität wahrnimmt, diese aber verfärbt. Das hat sich uns folgendermassen bestätigt: Hatice hatte gute und schlechte Reisen, gute und schlechte Momente. Solche, wo sie ziemlich genau erkannt hat, was ich tat und redete, und nur einige kleine Details waren unrichtig, und dann solche, wo sie kaum etwas richtig wahrgenommen hat, wo höchstens zehn Prozent korrekt waren. Wir kamen also zum Schluss, dass die Resultate sehr vom Gemütszustand des Beobachters abhängig sind. Je müder Hatice war, desto ungenauer ihre Erlebnisse. Je ruhiger und wacher sie war, desto genauer und korrekter ihre Wahrnehmungen.“
Helena nickte den beiden zu.
„Perfekt. Ein sehr wichtiger Punkt, den wir noch weiter besprechen werden.“
Über ähnliche Versuchsanordnungen wurde von den anderen A-Teams berichtet. Ein Sammelsurium an Informationen lag in der Luft und jede einzelne Information gliederte sich wie ein Puzzlestück in ein grösseres Bild ein.
Helena trat an den Flipchart und hielt die wichtigsten Punkte schriftlich fest.
„Ihr habt gute Arbeit geleistet! Wir haben mehrere Dinge, die wir auflisten wollen. Erstens ...“ Helena schrieb, während sie weiter sprach. „... unser Geisteszustand bestimmt die Klarheit und Genauigkeit all unserer Wahrnehmungen auf der anderen Seite. Zweitens, manchmal sehen wir Dinge, die offensichtlich assoziativen Charakter haben - das war der Fall, als Hatice Flying Shark wedeln sah, weil die Geschichte von Mehmed von einem Hund handelte. Drittens, Gedanken werden genau so als Wirklichkeit dargestellt wie tatsächliche Handlungen, die man ausführt, wie Marias Team bewiesen hat. Viertens, je mehr man die Verschiebung des Blickpunktes übt, desto schneller kann man den Körper verlassen, das heisst, die Verbindung zwischen unserer Seele und unserem Körper wird lockerer.“
Helena legte den schwarzen Filzstift auf den Tisch. Ihre Miene wurde ernst, ihr Blick schärfer und strenger.
„Leute, wir sind in einem Eilzug, deshalb kann ich euch nicht alles selbst entdecken lassen. Das würde unsere Zeitvorgaben sprengen. Aber alles, was ich euch jetzt erkläre, könntet ihr genau so gut selbst heraus finden. Es sind keine komplizierten Geheimnisse, die ich euch verständlich machen will, sondern Dinge, die durch eine genaue Forschungsweise jedem schnell klar werden
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