Der letzte Aufstand
ich meiner Mutter den Schmuck, den sie von ihrer Grossmutter geerbt hatte, weggenommen, um meinem besten Freund eine gehörige Tracht Prügel zu ersparen. Er schuldete einer Gang von Teenagern hunderttausend libanesische Pfund und wäre über Wochen immer wieder verprügelt worden, wenn er die Schuld nicht bezahlt hätte. Ich habe es meiner Mutter nie gesagt. Sie hat tagelang nach dem Schmuck gesucht und geweint, als sie schlussendlich eingesehen hat, dass der Schmuck fort war. Meine Mutter ist heute 72 Jahre alt. Ich glaube, sie weiss, dass ich ihn genommen hatte. Ich glaube auch, dass sie mir verzeihen würde, aber ich hab’s ihr nie gesagt. Heute denke ich, dass ich richtig gehandelt habe. Es war die kindliche Unschuld in mir, die das Wohlergehen eines Freundes höher einstufte, als einige Stücke Edelmetall, die in einer Schatulle lagen und nur alle fünf Jahre zu irgend einem Fest das Licht der Welt erblickten. Ich denke auch heute noch, dass das Wohlergehen eines Menschen immer höher eingestuft werden muss, als irgendwelche Materialien oder Geld. Aber ich bin mit meiner Auffassung alleine auf weiter Flur. Wenn ich ehrlich bin, ist das wohl auch der Grund, wieso ich ein Leben lang Probleme und Streitereien hatte. Ich habe nie geschwiegen. Wenn ich ein Unrecht sah, meldete ich mich zu Wort. Anfangs steckte ich deswegen viel Prügel ein, später brauchte ich meine Fäuste um das Unrecht zu bekämpfen. Aber das ist nicht der Weg.”
Kahil hielt inne und überlegte weiter. Doch dann erinnerte er sich an ein anderes Rezept, das er auf dem Internet gelesen hatte: keine zu langen Antworten ... die Interviewer könnten sich sonst langweilen.
“Habe ich Ihre Frage beantwortet?”
Heinz Bodmer schien zufrieden. Er nickte, stellte dann aber gleich die nächste Frage.
“Beleidigen Sie Menschen im Stillen und Verborgenen?”
Kahil musste keinen Moment lang nachdenken.
“Nein. Nie!”
“Was bewundern Sie an anderen Menschen?”
“Das ist eine gute Frage. Vieles ...” Wo soll ich denn hier bitte anfangen, fragte sich Kahil. Einfach weiter sprechen, sagte er sich.
“Ich bewundere grundsätzlich Redegewandtheit und einen grossen Intellekt. Ich liebe es, wenn Menschen komplexe Zusammenhänge entdecken und sie für mich nachvollziehbar wiedergeben können. Ich staune immer wieder über die Vielseitigkeit, über die wir Menschen verfügen. Ich meine, es gibt fast nichts, das es nicht gibt. Das bewundere ich. Ich bewundere Künstler und grosse Kunstwerke, Denker und ihre Philosophien, Wissenschafter und ihre brillanten Theorien.”
“Warum?”
“Weil ich an etwas Höheres im Menschen glaube. Diese Menschen zapfen dieses höhere Potential an und bringen es in diese - unsere - Welt, so dass alle davon profitieren können. Das bewundere ich enorm! Ich wünschte ich hätte auch eine Begabung, die anderen Menschen wirklich hilft. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich diese Begabung noch nicht entdeckt.”
Gerade als er es gesagt hatte, realisierte Kahil, dass er die einfachen und klaren Empfehlungen aus dem Internet nicht beachtet hatte. Er hatte soeben einen Schwachpunkt von sich selbst an die grosse Glocke gehängt, obwohl alle Experten auf dem Netz sich darüber einig waren, dass man keine Schwächen zeigen sollte. Sei’s drum, ich bleibe ehrlich, dachte er.
“Wie kann man Sie am besten tief verletzen?”, fragte Heinz Bodmer als nächstes und wechselte damit wiederum das Thema. Ging es hier darum ihn durcheinander zu bringen, indem man ein Wechselbad der Gefühle auslöste? Er sammelte sich kurz.
“Wirklich verletzen kann man mich nur, wenn man meine Existenz in Frage stellt. Ich hatte in Tripoli einen Klassenkameraden, der mich überhaupt nicht leiden konnte. Dummerweise war er grösser und stärker als ich, und so erhielt ich immer wieder Prügel von ihm. Aber irgendwann habe ich mich damit abgefunden und ich wartete einfach, bis er mit seinen Rohheiten fertig war. Leider bemerkte er, dass mich seine Fäuste nicht mehr erreichten, denn daraufhin wechselte er seine Strategie. Ab diesem Moment liess er mich körperlich in Ruhe, aber seelisch machte er mich fertig. Er sagte Dinge wie, ich hätte kein Recht auf das Leben, oder ich sei ein Fehler der Schöpfung. Das traf mich viel tiefer als jeder Schlag mich hätte treffen können. Und seit dann weiss ich, dass die tiefste Verletzung uns durch die Negation unseres Menschseins droht.”
Herr Bodmer nickte und kritzelte ein paar Worte auf den Notizblock vor
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