Der letzte Beweis
wollte, hatte häufig nichts mit den Sachverhalten des Falles zu tun. Yee war für diesen Prozess mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Statistik ausgewählt worden, denn er war der Richter, dessen Urteile im Staat am seltensten aufgehoben wurden, worauf er ungemein stolz war. Aber er hatte diese Spitzenposition nicht zufällig erreicht. Damit ging einher, dass er keine riskanten Entscheidungen traf. Im Strafrecht hatte nur der Angeklagte das Recht, Berufung einzulegen, und somit würde Richter Yee in Fragen der Beweisführung nur dann gegen Sabich entscheiden, wenn es Präzedenzfälle gab, die Tommys Argumentation eindeutig bestätigten. Im Herzen war Yee Staatsanwalt geblieben. Falls sie einen Schuldspruch für Rusty erreichten, würde er lebenslänglich bekommen. Doch bis dahin würde Richter Yee dem Angeklagten jeden erdenklichen Spielraum lassen.
»Besser ich frage, Mr Molto.« Der Richter lächelte. Im Grunde seines Herzens war er ein sanfter Mann. »Geht schneller«, sagte er. »Richter Sabich, als Ihre Frau starb, hatten Sie Affäre, Romanze, was immer« - Yee gestikulierte mit seinen kleinen Händen, um sich verständlich zu machen -, »irgendeinen Umgang mit anderer Frau?«
Rusty hatte sich auf dem Stuhl im Zeugenstand herumgedreht, um den Richter anzusehen. »Nein, Sir.«
»Und vorher, sagen wir, drei Monate - irgendeine Affäre, Romanze?«
»Nein, Sir.«
Der Richter nickte mit dem ganzen Oberkörper und forderte Molto mit einer Hand zu weiteren Fragen auf.
Tommy hatte sich zum Tisch der Anklagevertretung zurückgezogen und stand neben Brands Stuhl. Jim flüsterte: »Frag ihn, ob er sich amouröse Hoffnungen auf irgendeine Frau machte.«
Als Tommy die Frage stellte, reagierte Yee erneut mit einem entschiedenen Kopfschütteln.
»Nein, nein, Mr Molto, nicht in Amerika«, sagte der Richter. »Keine Gefängnisstrafe für was in Kopf eines Mannes.« Yee sah Rusty an. »Richter«, sagte Yee, »haben Sie mit anderer Frau über Liebe geredet? Irgendwann, sagen wir, drei Monate vor Tod von Ehefrau?«
Rusty antwortete sofort: »Nein, Sir.«
»Meine Entscheidung bleibt, Mr Molto«, sagte der Richter.
Tommy zuckte die Achseln und schaute zu Brand rüber, der aussah, als hätte Yee ihn mit einer Klinge durchbohrt. Die ganze Vorgehensweise brachte Tommy ein bisschen über Yee ins Grübeln. So spießig er auch wirkte, mit seinen Viskosehemden und der altmodischen Plastikbrille, er könnte auf Abwege geraten sein. Stille Wasser sind tief. Wenn es um Sex ging, wusste man nie.
»Holen Sie Geschworenen zurück«, sagte Richter Yee zu dem Gerichtsdiener.
Jetzt, wo es richtig losging, wusste Tommy plötzlich nicht mehr weiter.
»Wie soll ich ihn anreden?«, flüsterte er Brand zu. »Stern hat >Rusty< zu ihm gesagt.«
»>Richter<«, flüsterte Brand beschwörend. Er hatte natürlich recht. Wenn sie sich mit Vornamen ansprachen, würde das wieder diesem Vendetta-Gerede Futter liefern.
Tommy knöpfte sein Jackett zu. Wie immer war es um den Bauch rum ein klein wenig zu eng.
»Richter Sabich«, sagte er.
»Mr Molto.«
Auf dem Zeugenstand brachte Rusty immerhin ein Kopfnicken und ein Mona-Lisa-Lächeln zustande, das irgendwie ihrer jahrzehntelangen Bekanntschaft Tribut zollte. Es war eine dezente, aber gezielte Geste, eine von diesen Kleinigkeiten, die Geschworene immer registrierten. Auf einmal erinnerte sich Tommy an etwas, das er schon monatelang verdrängt hatte. Tommy war nur ein oder zwei Jahre nach Rusty zur Staatsanwaltschaft gekommen, sodass sie im Laufe der Zeit um dieselben Prozesse, dieselben Beförderungen hätten rivalisieren können. Aber dazu kam es nicht. Tommys bester Freund, Nico Deila Guardia, war Rustys Hauptkonkurrent gewesen. Tommy schaffte es nie bis dahin. Es war für alle offensichtlich, dass er nicht Rustys Intelligenz, Rustys Ausgebufftheit besaß. Alle hatten das gewusst, erinnerte sich Molto. Nicht zuletzt er selbst.
Kapitel 25
Nat, 22. Juni 2009
Sobald ich höre, worüber Tommy Molto mit Richter Yee sprechen möchte, husche ich zum Tisch der Verteidigung, gehe in die Hocke und flüstere Stern zu, dass ich mir draußen die Beine vertrete. Sandy nickt ernst. Ich haste zur Tür, ehe Molto viel sagen kann.
Wenige Stunden nach Debby Diaz' Besuch am Wahltag hatte mein Dad herausgefunden, dass er angeklagt werden würde. In den Wochen nach dem Tod meiner Mutter hatte er seinen Wahlkampf mehr oder weniger auf Eis gelegt. Koll tat es ihm für kurze Zeit
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