Der letzte Beweis
brauche Hilfe. Ich schäme mich, dass ich das sagen muss, aber ich hab eine Dummheit gemacht.«
Ich mache mich auf einen Sturm der Entrüstung gefasst. Stern hätte allen Grund dazu: Nachdem ich Ihnen eine zweite Chance besorgt habe, ein zweites Leben.
»Ach, Rusty« sagt er. Er scheint schwer zu atmen. »Damit verdien ich schließlich mein Geld.«
Stern hat strikte ärztliche Anweisung, zwei Wochen nicht zu sprechen und somit auch nicht in seine Kanzlei zu kommen. Ich warte lieber auf ihn, als mich von jemand anderem beraten zu lassen, dem ich auch nur ein Jota weniger vertraue. Nachdem achtundvierzig Stunden vergangen sind, finde ich so einigermaßen mein inneres Gleichgewicht wieder. Die Nachricht von Harnasons Flucht ist in die Medien gelangt. Die Polizei hat alle Spuren verfolgt und keinerlei Hinweis auf seinen Aufenthaltsort gefunden. Koll hat sich über meine Fehleinschätzung aufgeregt, aber die Kontroverse wird auf einen kleinen einspaltigen Beitrag ganz unten im Lokalteil verbannt, weil es bis zu den Wahlen noch so weit hin ist. Pikanterweise hätte Koll wesentlich mehr Aufmerksamkeit geerntet, wenn er in den Vorwahlen angetreten wäre.
Ich habe keine Ahnung, wie sich das Chaos um Harnason weiterentwickeln wird, ob Sandy mir raten wird, im Gericht reinen Tisch zu machen oder lieber den Mund zu halten. Aber in einer Frage ist meine Seele zur Ruhe gekommen: Ich muss aufhören, mich mit Anna zu treffen. Nachdem ich mal wieder einen Vorgeschmack des Untergangs gekostet habe, kann ich keine weitere Gefahr hinnehmen.
Drei Tage später treffe ich früher als sonst in der Lobby des Dulcimer Hotel ein, um sie abzufangen, ehe sie nach oben aufs Zimmer geht. Mein ungewohnt frühes Auftauchen verrät ihr, dass irgendwas nicht stimmt, aber ich ziehe sie zu einer der Säulen und flüstere: »Wir müssen damit aufhören, Anna.«
Ich sehe, wie ihr Gesicht sich verzieht. »Gehen wir hoch«, sagt sie ungehalten. Ich weiß, wenn ich Nein sage, wird sie sich nicht beherrschen können und eine Szene machen.
Sobald die Tür geschlossen ist, beginnt sie bitterlich zu weinen und setzt sich, noch immer in dem Regenmantel, den sie wegen des heutigen Unwetters trägt, in einen Sessel.
»Ich hab versucht, es mir vorzustellen«, sagt sie. »Ich hab so oft versucht, es mir vorzustellen. Was würde ich empfinden, wenn du das zu mir sagst? Und ich konnte es einfach nicht. Ich konnte es nicht, und ich kann es auch jetzt nicht glauben.«
Ich habe im Vorfeld beschlossen, ihr das mit Harnason nicht zu erklären. Als es passiert ist, habe ich ihr nichts davon erzählt, und auch wenn es noch so absurd ist, ich bin sicher, dieselbe Frau, die mich zu ehebrecherischen Leidenschaften animierte, wäre entsetzt bei dem Gedanken, dass ich mich als Richter dermaßen unprofessionell verhalten konnte. Stattdessen sage ich nur: »Es ist Zeit. Ich weiß, es ist Zeit. Es wird nur noch schwieriger werden.«
»Rusty«, sagt sie.
»Ich habe recht, Anna. Das weißt du.«
Zu meinem Erstaunen nickt sie. Sie hat sich selbst damit abgefunden. Acht Wochen, denke ich. So lange also hat meine Flucht in die Unvernunft gedauert.
»Du musst mich noch einmal halten«, sagt sie.
Ich halte sie lange in den Armen, während wir direkt vor der Tür stehen. Es ist das Gegenstück zu unseren ersten gemeinsamen Augenblicken. Aber wir brauchen die Erinnerung daran nicht. Unsere Körper haben ihre eigenen Impulse. Wir beeilen uns, vielleicht weil wir wissen, dass wir uns die Zeit gestohlen haben.
Wieder angezogen, schmiegt sie sich an der Tür noch einmal an mich.
»Müssen wir ganz aufhören, uns zu sehen?«
»Nein«, sage ich. »Aber wir sollten eine Weile auf Abstand gehen.«
Als sie fort ist, bleibe ich noch ganz lange auf dem Bett liegen. Über eine Stunde. Der Rest meines Lebens, dunkel und trostlos, hat begonnen.
Ich könnte sagen, dass der Verlust nicht zu verkraften ist, aber das wäre unwahr. Ich laufe durchs Leben wie ein Amputierter, der den Phantomschmerz eines fehlenden Körperteils spürt, während mir vor Sehnsucht das Herz zerspringt und mein Verstand mir in der vielleicht traurigsten Tonart von allen sagt, dass auch das vorbeigehen wird. Nie wieder, denke ich. Jetzt ist der Fluch wahr geworden. Nie wieder.
Nach einer Woche wird es besser. Ich vermisse sie. Ich trauere um sie. Aber es ist wieder etwas Frieden eingekehrt. Sie war so unerreichbar - so jung, so sehr Bewohnerin einer anderen Zeit -, dass es schwierig ist, den Verlust
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