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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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mich jetzt, all meine Schwächen, meine Eitelkeit. Ich habe gelogen, aber was sie sieht, ist dennoch die Wahrheit.
    Trotzdem habe ich eines erreicht.
    Es ist aus.
     
    Meine Beziehung zu Sandy Stern ist intensiv und einzigartig. Er ist der einzige Anwalt, von dessen Fällen ich mich im Berufungsgericht ausnahmslos selbst entbinde. Selbst meine ehemaligen Referendare kommen fünf Jahre später in meinen Gerichtssaal. Stern und ich sind keine Intimfreunde. Nach meinem Prozess habe ich sogar zwei Jahre überhaupt nicht mit ihm gesprochen, bis meine Dankbarkeit andere Gefühle verdrängte, die ich hinsichtlich meines Falls hatte. Inzwischen haben wir ein gutes Verhältnis, das von gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist, und essen gelegentlich gemeinsam zu Mittag. Aber er vertraut mir nicht seine Geheimnisse an. Dennoch war seine Rolle in meinem Leben derartig epochal, dass ich nie so tun könnte, als wäre er bloß irgendein Anwalt. Er hat mich meisterhaft verteidigt, und jedes Wort, das er vor Gericht sagte, war so bedeutsam wie jede Note von Mozart. Ich verdanke ihm mein Leben.
    Wir plaudern bei ihm im Büro über seine Kinder und Enkel. Seine Jüngste, Kate, hat drei Kinder. Vor zwei Jahren ließ sie sich scheiden, hat aber inzwischen wieder geheiratet. Sein Sohn Peter ist mit seinem Lebensgefährten, der ebenfalls Arzt ist, nach San Francisco gezogen. Die offensichtlich Zufriedenste der drei ist seine Tochter Marta, die mit ihm zusammen in der Kanzlei arbeitet. Vor zwölf Jahren hat sie Solomon geheiratet, einen Unternehmensberater, mit dem sie drei Kinder hat und ein erfülltes Leben führt.
    Sandy sieht aus wie immer, vielleicht ein bisschen rundlicher, was der perfekt maßgeschneiderte Anzug kaschiert. Wer in jüngeren Jahren älter wirkt, hat den Vorteil, dass er in fortgeschrittenem Alter gegen das Verstreichen der Zeit gefeit scheint.
    »Sieht so aus, als hätten Sie sich gut von Ihrer Kehlkopfentzündung erholt«, sage ich zu ihm.
    »Nicht ganz, Rusty. An dem Tag vor Ihrem Anruf hatte ich eine Bronchoskopie. In ein paar Tagen werde ich operiert. Lungenkrebs.«
    Ich bin entsetzt, seinetwegen ebenso wie meinetwegen. Seine verdammten Zigarren. Sie sind sein ständiger Begleiter, und wenn er tief in Gedanken ist, vergisst Stern meistens, dass er nicht inhalieren soll. Der Rauch strömt aus seiner Nase wie aus Drachennüstern.
    »Ach, Sandy.«
    »Die Ärzte sagen, es ist gut, dass sie operieren können. Es könnte schlimmer sein. Sie werden einen Lungenflügel entfernen und dann abwarten.«
    Ich erkundige mich nach seiner Frau, und er sagt, dass Helen, die er als Witwer heiratete, ganz die Alte ist, tapfer und lustig. Wie immer ist sie genau das, was er jetzt braucht.
    »Aber«, sagt er dann, »reden wir nicht mehr von mir.« Ich frage mich, ob ich meine Kandidatur aufrechterhalten würde, wenn ich wirklich dem Untergang geweiht wäre, wenn meine Zeit zur Neige ginge. Es macht Sterns Lebenswerk alle Ehre, dass das für ihn nach wie vor die besten Augenblicke sind.
    Ich erzähle ihm die Geschichte in groben Zügen, gebe nur das wieder, was Stern unbedingt wissen muss: dass ich eine Affäre hatte, auf dem Weg zu einem Rendezvous von Harnason verfolgt wurde, dass er mich überrumpelt hat und ich danach verunsichert war - wütend, eingeschüchtert, schuldbewusst. Die Geschichte löst bei Stern sein kompliziertes, südländisches Mienenspiel aus, all seine Gesichtszüge geraten kurz in Bewegung, um den unglaublichen Wechselfällen des Lebens Rechnung zu tragen.
    Die zwei Wochen, die ich darauf gewartet habe, mit Sandy sprechen zu können, haben mir hinsichtlich meines Problems mit Harnason keine klarere Haltung verschafft. Ich möchte Sterns Rat hören, was ich unter juristischen und ethischen Gesichtspunkten tun sollte. Muss ich meinen Richterkollegen oder der Polizei die Wahrheit sagen? Und welche Konsequenzen hätte das für mich? Während Stern zuhört, greift er automatisch nach seiner Zigarre, hält aber dann inne. Stattdessen massiert er sich nachdenklich die Schläfen. Er lässt sich viel Zeit.
    »In so einem Fall, Rusty, mit so einem Menschen -« Stern spricht den Satz nicht zu Ende, aber seine Mimik deutet an, dass er sich über Harnasons eigenartige Persönlichkeit im Klaren ist. »Er hat sich ausgesprochen clever mit Geld für seine Flucht versorgt, und ich vermute, er hat genauso sorgfältig geplant, wo und wie er untertaucht. Ich glaube kaum, dass er sich je wieder blicken lässt.
    Falls er jedoch

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