Der Letzte Bus Nach Woodstock
bitten auszutrinken«, sagte der Wirt.
Kapitel 7 – Samstag, 2. Oktober, nachmittags
Morse verbrachte den Samstagnachmittag in einem angenehmen Zustand leichter Trunkenheit in seinem Büro. Gegen halb fünf war die Packung Zigaretten, die er sich mittags gekauft hatte, leer, und er ließ sich eine neue Schachtel bringen. Er hatte das Gefühl, als würden seine Gedanken zunehmend klarer. Es schien ihm, als beginne sich hinter den Ereignissen des letzten Mittwochs ein Muster abzuzeichnen. Undeutlich noch, und ohne daß er, auch nur versuchsweise, bestimmte Namen hätte zuordnen können.
Er sah noch einmal den dünnen Stapel kopierter Briefe und Karten durch, den er am Morgen von der Versicherungsgesellschaft mitgenommen hatte. Gemessen an seinen Erwartungen, ein eher rührendes Päckchen. Einige der Mitteilungen legte er sofort beiseite. Nur ein Paranoiker hätte aus ihnen irgend etwas Verdächtiges herauslesen können. Auf einer der Postkarten stand: ›Liebe Ruth! Das Wetter hier ist gut. Gestern war ich schon zweimal Schwimmen. Am Strand habe ich eine tote Qualle gesehen. Ganz liebe Grüße. Deine T.‹ Eine Qualle hat auch kein schönes Leben, dachte Morse mit der Sentimentalität des Beschwipsten. Vor ihm lagen jetzt noch drei Briefe, die er sich etwas genauer ansehen wollte. Zwei davon schied er, nachdem er sie noch einmal gelesen hatte, aus. Ein Brief blieb übrig. Er war maschinengetippt und an Miss Jennifer Coleby adressiert. Er lautete:
Sehr geehrte Bewerberin,
nach eingehender Prüfung aller Unterlagen sehe ich mich leider gezwungen, Ihnen mitzuteilen, das wir Ihrer Bewarbung nicht entsprechen konnten. Da gedoch Anfang Novenber im Fachbereich Psychologie drei Stellen neu zur Besetzung anstehen, erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, ihre Bewerbung dann berücksitigen zu können.
Mit verbindtlichen Grüßen
Der Verfasser des Briefes hatte offenbar seinen Namen nicht preisgeben wollen. Der erste Buchstabe der Unterschrift, ein ›S‹, war klar zu lesen, den schwungvoll angehängten Rest hätte wohl selbst ein Gelehrter wie Champollion nicht entziffern können. Miss Jennifer Coleby sucht also eine andere Arbeit, sinnierte Morse. Warum auch nicht? Hunderte, Tausende von Menschen bewarben sich täglich um eine neue Stelle. Auch er selbst hatte manchmal schon überlegt. Er fragte sich, wieso er überhaupt mehr als einen Gedanken an den Brief verschwendete. Auch wieder nur so ein hingepfuschtes Machwerk. Unverzeihlich viele Fehler – und nicht nur Tippfehler. Der Schreiber konnte offenbar einen Objektsatz nicht von einem Relativsatz unterscheiden. Als er zur Schule gegangen war, hatte man auf äußere Form, Satzbau, Rechtschreibung und Zeichensetzung noch Wert gelegt. Mangelnde Sorgfalt und Verstöße gegen die Regeln von Stil und Grammatik wurden unnachgiebig geahndet. In solchen Dingen verstanden die damaligen Lehrer keinen Spaß. Aus dieser Zeit stammte seine Genauigkeit – manche sagten Pingeligkeit – im Umgang mit der englischen Sprache. Wenn er an die Mißgeburt von Bericht dachte, die ihm erst gestern wieder in seiner eigenen Behörde vor Augen gekommen war, trieb es ihm noch einen Tag danach die Zornesröte ins Gesicht. Und es wurde immer schlimmer statt besser. Kein Wunder eigentlich, wenn man bedachte, daß es sogenannte neue Pädagogen gab, die diese Entwicklung sogar als Fortschritt begrüßten. Wenn Julie es wagen würde, ihm mit so etwas unter die Augen zu treten, wäre sie die längste Zeit seine Sekretärin gewesen. Aber das war bei ihr undenkbar. Ihre Initialen in der Zeile unter dem Briefkopf waren die Garantie für einen sauber und fehlerlos geschriebenen Brief. – Das war aber eigenartig … Morse starrte verwundert auf den Brief. Hier war ja gar kein Zeichen angegeben. Hatte S. U n leserlich sich selbst hingesetzt und getippt? Und wenn ja, in welcher Position hatte man ihn sich dann vorzustellen? Als einen höheren Beamten etwa? Aber dann wäre doch … Je genauer er sich den Brief ansah, um so merkwürdiger erschien er ihm. Wieso fehlte der Briefkopf? Oder war das jetzt so üblich, und er sah bloß Gespenster?
Nun, das ließ sich herausfinden. Er blickte auf die Uhr. Halb sechs. Miss Coleby würde, auch wenn sie vorhatte, an diesem Samstagabend auszugehen, um diese Zeit vermutlich noch zu Hause sein. Wo wohnte sie überhaupt? Lewis hatte ihre Anschrift sorgfältig notiert. Charlton Road. Die lag in Nord-Oxford. Ein neuer, unerwarteter Gesichtspunkt? Morse begann
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