Der Letzte Bus Nach Woodstock
würde liefern müssen. »Also, mit umgekehrt meine ich, wir sollten den Mörder finden, um den Fall zu lösen.«
»Ah so, ich verstehe.«
»Das freut mich«, sagte Morse. »Es ist ja auch wirklich sehr einleuchtend. Mal angenommen, Lewis, ich würde Ihnen sagen, wo der Mörder wohnt. Dann könnten Sie doch hingehen und ihn festnehmen, oder?« Der Sergeant nickte zögernd. Hatte Morse sich vielleicht bei seinem Sturz nicht nur den Fuß verletzt? »Sie könnten ihn mir vorführen – wir müßten natürlich aufpassen, daß er dem Fuß nicht zu nahe käme – und dann müßte er uns alles erzählen. – Wir lassen einfach ihn die ganze Arbeit machen.«
Er war nicht zu bremsen. Mit vollem Mund schwadronierte er fröhlich über die Vorzüge der neuen Methode. Lewis begann sich ernstlich Sorgen um ihn zu machen. Mit Gehirnerschütterungen war das so eine Sache. Er selbst hatte schon solche Fälle gesehen, und man hörte auch eine Menge darüber. Manchmal waren sie erst ganz normal, und zwei, drei Tage nach dem Unfall fingen sie auf einmal an, krauses Zeug zu reden. Zum Glück ging es ja nach einiger Zeit immer wieder vorbei … Oder hatte Morse nur getrunken? Aber die Dosen, die er ihm aufgemacht hatte, waren alle noch voll. Lewis fühlte sich unter der plötzlichen Last der Verantwortung unbehaglich. Er schwitzte. Die immer noch warme Herbstsonne schien direkt in das Schlafzimmerfenster, und die Luft im Raum war stickig.
»Soll ich Ihnen noch irgendwas bringen, Sir?«
»Ja. Sollen Sie. Handtuch, Waschlappen und Seife, bitte. Übrigens haben Sie und ihre Frau ganz recht – aus dem Papier schmeckt es wirklich viel besser.«
Eine Viertelstunde später verließ Lewis das Haus. Er war immer noch über Morses Geisteszustand beunruhigt und wäre wohl noch besorgter gewesen, hätte er Morse jetzt sehen können. Der saß im Bett zurückgelehnt, hielt einem imaginären Publikum eine Art Vortrag und nickte sich, wenn ihm eine Formulierung besonders gelungen schien, selbst beifällig zu.
»Nun zu meiner ersten Hypothese, meine Damen und Herren, einer grundlegenden Hypothese, der – um das gleich vorweg zu sagen – im Laufe meiner Ausführungen noch weitere folgen werden. Sie lautet: Der Mörder wohnt in Nord-Oxford. Sie werden vielleicht sagen, dies sei eine reichlich kühne Annahme, und ich verstehe Ihren Einwand. Der Mörder könnte doch ebensogut in Didcot oder Sidcup oder auch in Southampton wohnen. Warum ausgerechnet in Nord-Oxford? Und wenn schon hier in der Gegend – warum dann nicht in Oxford selbst? Ich möchte Sie daran erinnern, daß ich hier lediglich eine Hypothese formuliere, eine Vermutung äußere. Später, das verspreche ich Ihnen, wird es konkreter, denn die Richtigkeit meiner Hypothese wird sich an Fakten beweisen müssen. Vielleicht stellt sich dann auch heraus, daß sie falsch ist – wie Sie sehen, beziehe ich auch diese Möglichkeit durchaus in meine Überlegungen mit ein. Doch bis dahin möchte ich Sie bitten, nicht zu vergessen, daß Sie in mir einen Detektiv vor sich haben. Ein Detektiv besitzt eine besondere Sensibilität für Verbrechen – gewisse Dinge erfaßt er intuitiv, längst bevor er sie rational erklären oder beweisen kann. Nord-Oxford ist in den Ermittlungen bisher zweimal aufgetaucht, und, was das Wesentliche ist, es fühlt sich sozusagen richtig an. Sollte ich mich getäuscht haben, nun, so ist das auch nicht weiter schlimm. Es handelt sich ja schließlich nur um eine Hypothese – aber ich glaube, das sagte ich bereits. Wo war ich stehengeblieben? Ah ja. Ich möchte Sie also bitten, diese meine Annahme als vorläufige Arbeitshypothese gelten zu lassen. Sie dürfen ruhig skeptisch sein, das schadet nichts. Gehen wir also jetzt einmal davon aus, daß der Mörder in Nord-Oxford lebt. Nun habe ich vorhin Fakten erwähnt, und ich werde Ihre Erwartungen in dieser Hinsicht nicht enttäuschen. Aristoteles klassifizierte die Tiere, indem er sie unterteilte, und auch wir werden im folgenden die Methode der Unterteilung anwenden. Aristoteles – wie ich schon sagte – unterteilte also Gattung, Art, Unterart, Art, Gattung …« Morse kam mit den Begriffen nicht mehr ganz zurecht, gab es auf und sagte mit etwas forcierter Forschheit: »Am Ende jedenfalls langte er dort an, wo auch wir hinwollen – beim einzelnen Exemplar der Art. « Das klang doch wirklich schön. »Und wie soll unsere Unterteilung aussehen, werden Sie fragen. Ich werde es Ihnen gleich zeigen. Bezeichnen wir die Anzahl der
Weitere Kostenlose Bücher