Der letzte Engel (German Edition)
Idee, wann der Archivar es ihr zugesteckt haben konnte. Das Handy war mit einem Gummiband umwickelt, unter dem ein Zettel klemmte.
Ich brauche es nicht mehr,
vielleicht hilft es euch.
J-L.
Mona schaltete das Handy ein und öffnete das Telefonbuch. Namen über Namen. Sie scrollte bis H herunter und fand die Hakonsons. Stolz hielt sie Esko das Handy entgegen. Auf dem Display war nicht nur die Adresse zu sehen, da stand auch die Festnetznummer.
»Und?«, fragte Esko.
Mona drückte auf Verbinden und stellte sich vor, wie Motte ans Telefon ging und wie sie sagte: Hallo, ich bin so was wie deine Schwester. Eine automatische Ansage erklärte ihr, dass der Anschluss nicht mehr existierte.
Mona schaltete das Handy wieder aus und verzog den Mund.
»Ich wollte sie warnen«, sagte sie.
»Es war den Versuch wert«, sagte Esko und wischte sich die Augen trocken. Er hatte eine Packung Taschentücher in der Ablage gefunden und jetzt war nur noch eines übrig. Mona schaltete das Handy aus und verstaute es im Rucksack.
»Was tun deine Mädchen da eigentlich?«
Mona sah nach vorn. Ihre Schwestern standen in einer Reihe nebeneinander auf dem Bürgersteig, sie hatten den rechten Arm waagerecht ausgestreckt und die Köpfe gesenkt. Sieben Arme zeigten nach Südosten.
»Sie zeigen uns, wo es langgeht«, sagte sie.
Esko startete den Wagen und legte den Gang ein, als hätte er das die letzten zwanzig Jahre jeden Tag gemacht. Mona öffnete die Historie der Familie und fragte, ob sie vorlesen sollte.
»Das ist nicht nötig«, sagte Esko. »Ich kann dir die Geschichte erzählen.«
Esko tippte sich an die Stirn.
»Jean-Lucs Wissen ist jetzt ein Teil von mir und er kennt jede Seite aus dem Buch. Und ich kann dir sagen, die Familie ist mehr als nur eine nette Gruppe von Leuten, die euch Mädchen mit Hilfe von Gouvernanten in einem Haus großgezogen hat. Viel mehr.«
Mona sah auf das offene Buch in ihren Händen, klappte es zu und verstaute es wieder im Rucksack.
»Erzähl«, sagte sie.
Und so begann Esko zu erzählen, während er den toten Mädchen folgte.
Und so machten sie sich auf den Weg nach Berlin.
Und so verpassten sie die Fähre.
In dieser Nacht saß Mona auf der Motorhaube des Autos und schaute aufs Meer hinaus, während Esko sie bis zum Morgengrauen mit dem Wandel der Familie in den letzten zwei Jahrhunderten wachhielt. So erfuhr Mona von dem Fund, der auf den Färöer-Inseln gemacht wurde. Sie erfuhr von der Baronin von Krüdener und Yves Romain, von den Laboratorien und natürlich auch von den Gräfinnen und dem Diener Kolja.
Es gab aber auch viele Fakten, die keinen Eingang in die Erinnerung des Archivars gefunden hatten. Fakten, die niemand wissen sollte und die deswegen nie in der Historie der Familie festgehalten worden waren. Der Besuch der Gräfinnen in Berlin und ihr Treffen mit den Brüdern Grimm zum Beispiel. Genauso wenig kamen Königin Theia und das Märchen darin vor. Die Historie der Familie handelte nur von der Entstehung der Familie und ihrem einzigen Ziel: Sie wollten die Engel auf die Erde zurückholen.
DAS ZIEL
1816 war nicht nur das Jahr, in dem sich die Familie gründete, es war auch das Jahr ohne Sommer. Frost und Eisstürme legten sich über Europa und Nordamerika, Schnee bedeckte den ganzen Sommer über die Felder und Äcker und führte zu Hungersnöten. Die Ernten waren zerstört, die Sonne ließ sich nicht blicken, die Menschen dachten, das Ende der Welt wäre nahe.
Diese Zeit der Verzweiflung nutzten die Wissenschaftler, die auf Einladung der Baronin nach Sankt Petersburg gekommen waren, um sich ganz und gar auf die Erforschung des Fundes zu stürzen. Die Villa war überlaufen, Feldbetten wurden aufgestellt, jede Ecke wurde als Arbeitsfläche genutzt. Die Bibliothek war unentwegt besucht und erfüllt von Gesprächen und dem aufgeregten Geist der Neugierde.
In den ersten Monaten entstand eine verschworene Gemeinschaft von sechsundzwanzig Forschern. Sie kamen hauptsächlich aus Europa, doch selbst aus dem fernen Australien reisten sie an. Einige von ihnen wollten neue Türen aufstoßen, aber der Großteil war eher skeptisch und wollte einfach nur wissen, was die Geheimnistuerei sollte. Die Baronin musste keine große Überzeugungsarbeit leisten. Sie zeigte ihnen die Überreste der Engel und ließ sie die Flügel berühren. Von diesem Moment an war ihre Skepsis verschwunden und sie hätten ihr Leben für die Erforschung des Fundes gegeben. Eine Leidenschaft flammte in ihnen auf, von der
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