Der letzte Engel (German Edition)
sie nicht geahnt hatten, dass sie überhaupt existierte. Und diese Leidenschaft wurde zu einem Fegefeuer, nachdem die Forscher Die Chronik der Engel gelesen hatten. Sie waren erfüllt von Sehnsucht, Liebe und dem unwiderstehlichen Verlangen, etwas Gutes zu tun.
Für die Menschheit und für das Wesen des Menschen an sich.
Die Forscher sahen sich als würdige Nachfolger der Engelswesen, und sie waren bereit, das Erbe der vergessenen Kultur bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Jeder einzelne empfand sich als Teil einer großen Familie. Der Name blieb hängen und Die Chronik der Engel wurde die Bibel dieser Familie. Das Buch und seine vier Übersetzungen bekamen ein eigenes Zimmer und in regelmäßigen Abständen zogen sich die Gelehrten zurück und studierten darin die Vergangenheit der Engel. Keine Minute des Tages war Die Chronik allein, so wie auch die Skelette und die Flügel keine Einsamkeit kannten.
Natürlich bekam der Zar mit, was für eine Aufregung im Villenviertel von Sankt Petersburg herrschte. Er hielt gar nichts von dem Hokuspokus und verstand nicht, was diese ausländischen Forscher in seiner Stadt verloren hatten. Einer seiner Minister hatte ihm zugeflüstert, es könne sich um Spione handeln. Also beschloss der Zar, sich die Angelegenheit näher anzusehen. Sein Besuch war unangemeldet. Die Bediensteten, die Wissenschaftler und die Baronin verbeugten sich ehrfürchtig und eine panische Unruhe machte sich in der Villa breit. Jeder wusste, dass der Zar mit einem einfachen Kopfschütteln das gesamte Projekt für nichtig erklären konnte.
Die Furcht war unberechtigt.
Nach einem Abstecher in das Zimmer mit den Überresten der Engel war der Zar ein Teil der Familie. Es brauchte eher noch eine gute Portion Überredungskunst vonseiten der Baronin, sonst hätte er die Flügel und die Chronik mitgenommen. Sein Besuch war das Beste, was dem Projekt widerfahren konnte. Von diesem Tag an begann der Zar, die Erforschung des Fundes zu finanzieren. Ohne seine Unterstützung hätte die Baronin sehr bald am Hungertuch genagt.
Unter der Aufsicht von Yves Romain wurden die Knochen und die Flügel untersucht, immer mit größtmöglicher Vorsicht, um sie nicht zu beschädigen. Im ersten Jahr wurden allein über den Fund mehr als dreihundert Protokolle und Abhandlungen verfasst, die nie das Licht der Öffentlichkeit sahen, weil sie unter Verschluss in der Villa blieben. Natürlich gab es auch unendliche Diskussionen. Ganz besonders über den Fakt, dass einer der Engel weiblich sein sollte.
Wie nannte man sie?
War Engelin der richtige Begriff?
Konnten Engel sich selbst zeugen?
Mit jedem Tag wuchs der Eifer der Forscher. Ihre Zahl stieg bis zum Sommer auf achtzig an. Sie mieteten sich in der Stadt ein, sie zelteten um die Villa herum und waren bestrebt, hinter das Geheimnis der Engel zu kommen und herauszufinden, wie diese Wesen aussterben konnten, woher sie kamen und wer sie einst waren. Dabei befanden sich die Forscher vom ersten Tag an auf der falschen Spur, und es war diese falsche Spur, die in der fernen Zukunft zum Niedergang der Familie führen sollte. Es war ein Detail, das sie alle missverstanden hatten, weil die Gräfinnen wollten, dass sie es missverstehen.
Yves Romain war der Wahrheit zu Beginn seiner Nachforschungen als Einziger nahe gekommen. Er vermerkte in einem seiner ersten Protokolle, dass die Knochenstruktur des weiblichen Engels vollkommen unpassend für das Gewicht der Flügel gewesen sei. Auch verstand er nicht, wieso der weibliche Engel Schulterblätter hatte, während sie dem männlichen Engel fehlten. Romain stellte seine Entdeckung nie zur Diskussion, denn wer zweifelt schon gerne die Engel an?
Nach ihrer forcierten Rückkehr in die Villa leugneten die Gräfinnen vehement, jemals die Fingerknochen gestohlen zu haben. Sie entzogen sich der Aufregung, mieden die Forscher und verfolgten ihr eigenes Ziel, die Prophezeiung im Märchen zu entschlüsseln. Dafür besuchten die Damen jeden Tag die Russische Nationalbibliothek und eigneten sich Wissen an, das selbst die Brüder Grimm erstaunt hätte. Die Damen waren so wissbegierig, dass sie kaum schliefen. Königin Theia hatte ihnen den Weg gewiesen, jetzt war es an ihnen, diesen Weg zu gehen. Elf Monate forschten und suchten sie und waren ohne Erfolg.
Die Prophezeiung blieb ihnen ein Rätsel.
»Ihr tut nichts«, ließ sie die Baronin eines Morgens wissen.
Draußen schneite es, und eine sanfte Stille lag über dem Land, doch wer vom
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