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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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sie.
    »Dann hätte ich ihn jetzt eigenhändig ausgepeitscht«, beendete Natascha für sie.
    Eine Weile lang war kein Laut aus der Kutsche zu hören, dann erklang ein Meckern und Lachen und die Tür schwang wieder auf.
    »Meine geehrten Damen, was für eine Freude, Sie zu sehen!«, begrüßte sie Barthom van Leeuwenhoek mit einem strahlenden Lächeln. Er trug einen Gehrock aus dunklem Samt und seine Stiefel waren poliert. Pia schaute an ihm vorbei in die Kutsche, die vollkommen verlassen war. Van Leeuwenhoek zupfte sich sein rotes Halstuch zurecht und lächelte.
    »Etwas Spaß muss doch sein«, sagte er.
    Die Gräfinnen wandten sich ab und ließen ihn neben seiner Kutsche stehen.
    Barthom van Leeuwenhoek war nicht nur sehr jung, er war auch sehr talentiert, was aber keiner in der Villa wusste. Von seinem Vater geschult, von seinen Lehrern gefördert, hatte er sich schon im Kindesalter für die Forschung interessiert. Während die anderen Jungs einander durch die Delfter Innenstadt jagten, saß Barthom zu Hause und schrieb seine mikroskopischen Beobachtungen in kleine Notizhefte und studierte Artikel und Bücher, die ihm sein Vater vorlegte. Auch wenn er ein Stubenhocker war, hatte Barthom eine unpassende Leidenschaft, die seiner Mutter immer wieder das Herz brach: Er tat, was er wollte.
    Selbst die Baronin war verwirrt, als der junge Mann sich beim Abendbrot nicht blicken ließ und sie nicht einmal für ein Gespräch aufsuchte. Ganz besonders Romain mißbilligte das Verhalten. Er hatte sich gefreut, van Leeuwenhoek senior zu begrüßen. Leider lag dieser seit einem Monat mit Lungenentzündung im Bett, und da er ein Mann war, der zu seinem Wort stand, hatte er seinen Sohn geschickt, um die Mikroskope auszuliefern.
    »Und wo ist der Junge jetzt?«, fragte Romain, als sie nach dem Abendbrot mit einem Glas Wein vor den Kamin saßen. Einige der Wissenschaftler hatten Barthom durch die Villa irren sehen, aber keiner wusste, wo er sich aufhielt.
    Barthom wurde von den Gräfinnen gefunden, als sie für die Nacht auf ihr gemeinsames Zimmer gingen. Der junge Mann hatte es sich auf dem Divan bequem gemacht und blätterte in dem Märchen. Sekundenlang standen die Gräfinnen im Türrahmen und schnappten nach Luft.
    »Wie wagt Ihr es?!«, empörten sie sich.
    Barthom schaute vom Buch auf, als hätte er die Damen eben erst bemerkt. Er zeigte auf den kleinen Tisch, auf dem drei Gläser, eine Flasche mit einer grünen Flüssigkeit, eine zweite Flasche mit Wasser und eine Schale mit Zucker bereitstanden.
    »Ich dachte, ein wenig Absinth könnte den Damen –«
    Weiter kam er nicht, die Gräfinnen kreischten ihn an:
    » LEGT DAS BUCH SOFORT WEG !«
    » ABER SOFORT SOFORT !«
    Van Leeuwenhoek runzelte die Stirn und sah auf das Buch.
    »Erklären Sie sich, meine Da–«
    Pia war mit vier Schritten bei ihm und entriss ihm das Buch. Sie drückte es an ihre Brust und lachte plötzlich.
    »Er versteht ja eh nichts«, sagte sie zu Natascha, die in das Lachen einstieg.
    »Der Narr versteht eh gar nichts«, sagte sie.
    Der Narr lachte mit ihnen.
    »Wisst ihr, wie liebreizend ihr aussehen könnt, wenn ihr lacht?«, fragte er. »Meine Mutter sagte immer, dass nur eine Frau, die über sich selbst lachen kann, eine wahre Frau ist. Meine gute Mutter war es auch, die mir Kyrillisch beigebracht hat. Sie meinte, man würde sicher mal nach Russland reisen. Und jetzt seht, hier bin ich.«
    Das Lachen der Gräfinnen erstarb, ihnen war plötzlich schwindelig. Barthom bot ihnen seinen Platz auf dem Divan an, die Damen setzten sich und nahmen dankbar ein Glas Absinth entgegen.
    »Und?«, sagte Natascha nach dem ersten Schluck. »Was sagt Ihnen das Märchen?«
    »Humor ist so eine Sache«, erwiderte Barthom und zog das eine Augenlid ein wenig herunter, was in späteren Jahrzehnten als Zeichen der Ironie gelten sollte. In diesem Jahrzehnt aber war es für die Gräfinnen ein Zeichen des Hohns. Natürlich hatte Barthom keine Ahnung von Kyrillisch. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben und sein Vater der Meinung gewesen, dass Niederländisch und Französisch die einzigen Sprachen seien, die Wert hatten.
    Natascha warf ihr Glas nach Barthom. Und Pia riet ihm, unbedingt seinen Kopf untersuchen zu lassen.
    »Kyrillisch oder nicht«, sagte Barthom und wischte sich die Reste vom Absinth von seinem Hemd, »was ist an dem Märchen so besonders?«
    Die Gräfinnen wechselten einen kurzen Blick, dann schlug Pia das Buch auf und übersetzte drei Sätze aus der

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