Der letzte Exfreund meines Lebens
einfach los. Und dann werden wir erwachsen, werden sozialisiert und verlieren diese Spontaneität.«
»Genau«, fiel Freddie ihm ins Wort. »Dann hast du also Wutanfälle bei über Fünfundzwanzigjährigen ausgelöst.«
Doch Brian schluckte diesen Köder nicht. »Es war unglaublich bewegend«, führte er stattdessen weiter aus. »Manche Menschen haben sich total geöffnet.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es auch ziemlich laut gewesen ist. Du musst ja Ohrensausen bekommen haben von dem ganzen Krach.«
»Du wärst überrascht, wenn ich dir sagen würde, wie wenig geschrien worden ist. Wir sind alle derart gehemmt. Es fällt den Menschen immer schwerer, derart laut zu werden, oft haben sie zum letzten Mal geschrien, als sie noch Kinder waren – und manche nicht mal dann.«
»Du meinst, so?« Freddie öffnete den Mund zu einem Schrei, der derart markerschütternd war, dass man ihn auch in einem billigen Horrorfilm an der Stelle hätte verwenden können, an der die Kreissäge zum Einsatz kam.
Im selben Augenblick kam Kate aus ihrem Zimmer und sah in der Erwartung, dass die Nachbarn klopfen würden, ängstlich Richtung Tür.
Brian aber lachte unbekümmert auf. »Okay. Offenbar bist du die Ausnahme.«
»Oh, ich kreische einfach gern«, gab Freddie unumwunden zurück.
Als Kate den Raum betrat, blickte Brian sie auf schmeichelhafte Weise lüstern an. »Wow, du siehst unglaublich aus!«, entfuhr es ihm. Kate machte sich nur selten derart chic, weshalb die Wirkung, wenn sie es dann tat, umso überwältigender war.
»Danke.« Sie schaute ihm lächelnd ins Gesicht. »Hast du Freddie gerade einen Crashkurs im Schreien gegeben, oder was?«
»Dabei braucht er keine Hilfe, denn er ist eindeutig ein Naturtalent. Doch ich habe ihm von meinem Workshop gestern erzählt.«
»War er gut?«
»Er hat uns alle unglaublich berührt. Wir hatten eine Frau, die hat den ganzen Tag nicht einen Ton herausgebracht, aber dann, am Schluss, hat sie eine Minute durchgehend geschrien. Was für sie ein echter Durchbruch war.«
»Erstaunlich«, hauchte Freddie atemlos.
»Das war bestimmt Suzanne«, stellte Kate mit bissiger Stimme fest.
»Stimmt, es war wirklich Suzanne.«
»Wer ist Suzanne?«, mischte sich Freddie, der die aufkommende Spannung spürte, eilig wieder ein.
»Brians Lockvogel«, erklärte Kate.
»Du hast einen Lockvogel?«, fragte Freddie Brian, und seine Stimme verriet einen bisher nicht vorhandenen Respekt. Vielleicht hatte der Typ ja doch versteckte Tiefen, überlegte er.
»Nein, ich habe keinen Lockvogel.«
»Wer ist sie dann?«
»Sie geht zu allen seinen Workshops und Gruppensitzungen und hat immer einen Durchbruch. Ganz egal worum
es geht – Coabhängigkeit, Kindheitstraumata, verdrängte Erinnerungen, Überlebenden-Syndrom, was auch immer –, sie hat immer einen Durchbruch, bricht in Tränen aus, und auf diese Art ist Brian ein Erfolg pro Sitzung garantiert.«
»Klingt für mich nach einem Lockvogel«, stimmte Freddie ihr nickend zu.
»Sie ist kein Lockvogel«, wehrte sich Brian vehement. »Sie ist eine unglaublich mutige Frau, die eine ausnehmend schwierige Reise angetreten hat.«
Kate wurde rot vor Zorn. Sie hasste es, wenn er so sprach.
»Wow, und wohin ist sie unterwegs?«, fragte Freddie mit geheucheltem Interesse.
»Du weißt, was ich damit sagen wollte, Freddie«, fuhr Brian ihn an.
»Die Reise nach innen«, führte Freddie mit bedeutungsschwerer Stimme aus. »Die schwierigste Reise von allen.«
»Du solltest es selbst mal ausprobieren«, meinte Brian leicht gereizt. »Sieh dir doch mal eine meiner Männergruppen an.«
»Oh, ich glaube nicht, dass ich da wirklich reinpasse.«
»Also bitte, du bist schließlich nicht der einzige Schwule auf der Welt.«
»Aber manchmal fühlt es sich so an.« Freddie schüttelte unglücklich den Kopf.
»Wirklich, ich denke, du könntest einen wertvollen Beitrag leisten.« Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, drückte Brians Blick so etwas wie Interesse an Kates Mitbewohner aus. »Wir erforschen sämtliche Aspekte der männlichen Reise, und du bist so offen und stehst derart in Verbindung mit deiner femininen Seite – die Gruppe könnte sicher jede Menge von dir lernen.«
Es war die Quelle seines Charismas, dass er jedem das Gefühl
vermitteln konnte, er wäre der faszinierendste Mensch der ganzen Welt. Denn er konzentrierte sich auf eine Weise auf sein Gegenüber, die ihm das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu sein.
»Hast du auch einen Lockvogel
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