Der letzte Karpatenwolf
über die Platte.
»Ein – was?«
»Ein Deutscher! Er hieß Paul Herberg. Elf Jahre hat er den taubstummen Blöden gespielt, um sich zu retten!« Brinse wischte sich über die Stirn. Kalter Schweiß klebte an seinem Handrücken. »Ich allein wußte, wer er war. Und oben, dein Mihai … Wie haben sie das bloß erfahren?!«
»Ist er verraten worden?«
»Von dem?!« Brinse schüttelte den Kopf. »Von hinten haben sie ihn erschossen … in das Genick … ganz nahe. Wie haben sie das bloß erfahren …«
Es wurde nicht bekannt. Die sowjetischen Soldaten begruben den blöden Grigori am Waldrand. Niemand sah später, wo er lag, der Boden war wieder glattgewalzt. Die Hirtenhütte brannten die Russen ab, die Schafe wurden auf eine andere Alm getrieben, von zwei Jungen, die zu Schäfern bestimmt wurden.
»Immer dieses Tanescu«, sagte Jon Lupescu, der Gemeindekommissar in Bacau, zu Oberst Sumjow, der erregt über diesen neuen Vorfall das Aktenstück auf Lupescus Tisch geworfen hatte. »Man sollte ganz Tanescu abbrennen!«
»Denken Sie realer, Genosse!« schnaubte Sumjow. »Erst wird dieser Stepan Mormeth, der Zigeuner, getötet. Dann verschwindet Popa spurlos! Jetzt entdeckt man einen Deutschen, der elf Jahre lang vor unser aller Augen als Vollidiot die volkseigenen Schafe gehütet hat! Es ist zum Kotzen, Genosse! Denn wo dieser eine ist, da leben auch noch mehr Deutsche! Nach elf Jahren, ich bitte Sie! Das ist eine Schweinerei!«
»Ich bin erschüttert, Boris Petrowitsch. Es wird sofort etwas geschehen!« Lupescu hieb mit der Faust auf den Tisch. Er bangte um seine Stellung und wurde mutig wie ein eingekreister Tiger. »Sofort!« brüllte er. »Und ich selbst werde nach Tanescu fahren!«
Vetter Eftimie, der Polizist, war zu einem Lehrgang in Galati. Er konnte, wie er es sonst so oft getan hatte, keinerlei Warnungen geben. Es wäre auch zu spät gewesen, denn weder die Miliz noch die sowjetischen Soldaten in Tanescu erfuhren etwas, bis die Kolonne aus Bacau bei Einbruch der Dunkelheit ins Dorf rollte. Es waren zehn Mannschaftswagen mit jungen Milizsoldaten, Jungen, die im Geiste des Kommunismus aufgewachsen und erzogen worden waren, die nichts auf der Welt kannten als die Ideen Lenins und Stalins und deren wahre Mutter der Staat war, dem sie dienten.
Sie schwärmten aus, besetzten innerhalb weniger Minuten die Häuser und Scheunen, umzingelten sogar die Kirche und das Popenhaus und begannen, das Dorf vom Keller bis unters Dach zu durchsuchen.
Michael saß mit Sonja, Mutter Anna, Mihai Patrascu und dem Arzt Georghe Brinse am Abendtisch, als die Tür aufsprang und Lupescu mit vier Soldaten in den Raum stürmten.
»Sitzen bleiben!« schrie Jon Lupescu. »Wer sich rührt, wird erschossen!«
Sonja senkte den Kopf tief auf die Brust. Unter dem Tisch tastete sie nach Michaels Hand. Als sie sie fand, umklammerte sie seine Finger. Sie zitterte und zwang sich, es nicht zu zeigen. Mutter Anna aß weiter … sie war plötzlich die Ruhigste von allen und tat, als ginge sie alles nichts an. Patrascu klopfte seine Pfeife am Absatz seines Stiefels aus.
»Eine neue Belehrung über kommunistische Schweinezucht, Genosse Jon?« fragte er leichthin. Aber die ihn kannten, merkten an dem Beben seiner Stimme, daß er die Gefahr erkannte.
Lupescu fuchtelte mit beiden Armen wild durch die Luft.
»Ihr werdet alle überprüft! Alle! Wann und wo geboren, wie lange im Dorf …«
»Seit dreihundert Jahren!« sagte Patrascu laut. »Und in diesen dreihundert Jahren hat uns noch keiner so blöd gefragt.«
Lupescu ließ die Arme sinken. Mutter Anna sah von ihrem Teller auf. »Ißt du eine Schüssel mit, Jon?« fragte sie. »Es gibt frische Bohnen mit Hammelspeck! Und ein Gläschen Dickmilch ist auch noch da!«
Lupescu kam langsam näher. Er starrte auf Michael. Durch Georghe Brinse lief ein Schauer. Er wollte aufspringen, aber seine alten, schwachen, in letzter Zeit immer wieder einknickenden Beine versagten plötzlich ganz. Er blieb auf der Bank sitzen und schnaufte durch die Nase.
»Wer bist du?« fragte Lupescu und zeigte auf Michael. »Ich kenne jeden Wurm in Tanescu … dich habe ich in all den Jahren noch nie gesehen! Wer bist du? Neu? Woher? Wo ist dein Meldeschein?«
»Er ist Knecht und der Bräutigam meiner Sonja«, sagte Patrascu laut.
»Ei, ei, der Bräutigam. Seit wann denn? Sollte nicht Popa sie heiraten?«
»Nie!« rief Sonja dazwischen. »Immer war es Mihai!«
»Mihai heißt er! Komm einmal aus der Ecke, du Bauernklotz!«
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