Der letzte Krieger: Roman
weißem Marmor bestand. Noch weiter die Anhöhen hinauf ragten die schlanken Türme der Töchter und Söhne Heras empor. Ivanara residierte im höchsten von allen. Seit Jahrtausenden befand er sich im Besitz von Mahaleas Familie, und jede Generation erneuerte die Zauber, durch die seine filigrane Architektur den Elementen trotzte. Uthariel mochte einst ähnlich ausgesehen haben, aber nun hätten die ungeschlachte Festung und der silbrig weiße Turm nicht weniger gemeinsam haben können.
So nah an den Berggipfeln wehte der Wind rauer. Der Greif musste sein ganzes Geschick aufbieten, um auf der kleinen Plattform auf der Spitze des Turms zu landen. Ein wenig steif von dem langen Flug sprang Mahalea ab und tätschelte ihm den breiten Rücken. »Ruh dich aus, und dann geh jagen!« Sie deutete zu den Gipfeln hinüber. »Oben! Nicht im Tal.«
Die Chimäre sah sie mit ernstem Raubvogelblick an, und es war wie so oft unmöglich zu sagen, ob sie ein Wort verstanden hatte. Doch Mahalea hatte jetzt keine Zeit, sich um den Greif zu kümmern. Sie vergewisserte sich, dass Bogen, Köcher und Tasche noch an ihrem Platz waren, und eilte die Treppe hinab.
Das Unwetter hatte Anvalon erreicht. Heulend fuhr der Wind durch die unzähligen Fenster und zerrte Mahalea fast die Kapuze vom Kopf. Auf der Nordseite des Turms musste sie sich jedes Mal gegen die Böen stemmen, bis sich die Treppe wieder aus der Windrichtung gewunden hatte. Gen Süden drohte der Sturm dagegen, sie die Stufen hinabzustoßen. Der viellagige Seidenmantel, der ihr als Rüstung diente, bauschte sich trotz seines Gewichts im Wind. Wieder beschlich sie das Gefühl, dieses Unwetter sei mehr als ein Sommergewitter. Vielleicht hatte etwas den Zorn der Götter erregt, deren Pläne durchkreuzt, wie es einst Astare gewagt hatten.
Es wunderte Mahalea nicht, dass sie bei diesem Wetter niemandem auf der Treppe begegnete. So sehr die Abkömmlinge Heras das Spiel mit dem Wind und die luftigen Höhen liebten, so sehr verabscheuten die meisten den Regen, der ihre Papierdrachen ebenso schwer und träge machte wie ihre Gemüter. Die ersten Tropfen klatschten Mahalea ins Gesicht, doch sie blinzelte nur. Über Kleinigkeiten wie Regen war sie nach fast zweihundert Jahren als Späherin längst erhaben.
Sie fand Ivanara im Studierzimmer. Die ansonsten offenen Fenster waren mit Läden verschlossen, die im Sturm klapperten. Hauchdünnes Glas schützte die Flamme der Lampe auf dem Tisch, doch im langen weißen Haar der Erhabenen spielte der Wind und blätterte in den Schriften, die sie mit geschnitzten Jadefiguren beschwert hatte. In ihren eisblauen Augen stand Kummer. Wie sich ihre Tante im hohen Stuhl aufrichtete und anlehnte, als Mahalea eintrat, erinnerte sie sie an ihr letztes Gespräch mit Retheon. Doch während das Gesicht des Kommandanten faltig und wettergegerbt gewesen war, hatte sich Ivanara über die Jahrhunderte eine zarte, fast durchscheinende Haut bewahrt.
»Mahalea«, sagte sie erfreut und streckte die Hände aus, um Mahaleas steife, kalte Finger zu umfassen und kurz zu drücken, bevor sie ihr den einzigen anderen Stuhl im Raum zuwies. »Es tut gut, dich gerade jetzt zu sehen.«
Exakt so lange, bis ich wieder mit meinen ewigen Unkenrufen anfange , schätzte Mahalea und rang sich ein Lächeln ab. »Als ich von dem Mord erfuhr, bin ich sofort aufgebrochen.«
Ihre Tante nickte kummervoll. »Eine so grausame und sinnlose Tat. Die ganze Stadt, der Rat, alle sind entsetzt. Kaum jemand kann sich noch daran erinnern, wann zuletzt ein Elf einen Elf getötet hat. Es ist Verrat am eigenen Volk.«
Verrat. Du sagst es. »Weiß man denn schon, wer es getan hat?«
»Nein. Niemand hat etwas gesehen. Es hat sich eine Frau gefunden, die Retheon kurz vor dem Mord begegnet ist, doch sie sagt, er sei allein gewesen.«
»Wer ist diese Frau? Könnte sie dann nicht …«, begann Mahalea, doch Ivanara fiel ihr ins Wort.
»Das halte ich für ausgeschlossen. Sie ist ein zartes junges Ding und wusste nicht einmal, wer Retheon ist. Ich habe selbst mit ihr gesprochen. Du kennst mich. Ich weiß, wenn man mich belügt.«
»Gibt es denn eine andere Spur?«
Ivanaras Züge verhärteten sich. »Die gibt es in der Tat. Retheons Tochter sagt, er habe sich auf dem Weg zu mir befunden, weil er eine Einladung von mir erhalten hatte.«
Mahalea merkte auf. »Und du hattest ihm keine Botschaft geschickt.«
»Du warst schon immer sehr scharfsinnig«, lobte Ivanara. »Er wollte am nächsten Tag im Rat ein
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