Der letzte Krieger: Roman
so weit?«, fragte Chria. »Bald wird es taghell sein, und ich will verschwinden, bevor mich jemand sieht.«
»Du wirst nicht abwarten, ob ich Erfolg habe?«
»Wozu? Damit ich ebenfalls sterbe, falls du versagst?«
»Ich werde nicht versagen«, prahlte Athanor, glitt vom Pferd und befreite sich von dem Seil, das er für den Ritt um seinen Leib geschlungen hatte. Chria hob es mit den Klauen auf und flog voran.
»Wie kommen die Elfen dort hinauf?«, erkundigte er sich, während sie sich der Erdspalte näherten.
»Einige Abkömmlinge Heras schweben. Der Rest benutzt eine Strickleiter. Und jetzt sei still! Sonst hört uns noch jemand.«
Anstelle einer scharfen Antwort knurrte Athanor nur. Chria hatte recht. Nur weil sich außer den Dunstschwaden nichts rührte und die Umrisse des filigranen Gebäudes immer wieder im Nebel verschwammen, durfte er die Stätte nicht für verlassen halten. Er kniff die Augen zusammen, um Erker und Fenster genauer zu mustern, doch nicht nur der Dampf, auch die Segel raubten ihm zunehmend die Sicht. Je näher er kam, desto weiter musste er den Kopf in den Nacken legen, um zu Kithera aufzublicken. Wieder wollte sein Mut sinken. Selbst die unterste Plattform schwebte etliche Mannslängen über dem Boden. Das ist nur der Schutzzauber , sagte er sich und trat vorsichtig an den Rand des Abgrunds, aus dem der Dunst aufstieg.
Heiße, feuchte Luft schlug ihm entgegen wie der Atem eines gewaltigen Tiers. Zu seinen Füßen ging es senkrecht in bodenlose Tiefe. Von einigen Segeln abgesehen, reichte Kithera nur an einer Stelle über den Rand dieses Spalts. Dort ließ der Magier wohl die Strickleiter herab, wenn ihm Besuch genehm war. Skeptisch beobachtete Athanor, wie die Harpyie das Seil hinauftrug und die Schlinge an dessen Ende um einen vorragenden Balken legte. Sein Leben würde nun von dem Knoten und diesem Stück Holz abhängen. Wieder ballte sich sein Magen zusammen. Zum Dunklen mit sämtlicher Elfenmagie! Er packte das Seil und zerrte daran. Zumindest löste sich die Schlinge nicht sofort auf.
Chria stieß im Sturzflug herab, fing sich kurz über dem Boden und sauste an ihm vorüber, dass ihm heißer Dampf ins Gesicht wehte. »Viel Glück, Mensch.« Damit stob sie davon, dicht über dem Grund, um aus dem Turm nicht gesehen zu werden.
Athanor vergewisserte sich, dass Schild und Köcher sicher auf seinem Rücken hingen, dann griff er erneut nach dem Seil und begann den Aufstieg. Das erste Stück fiel ihm leicht. Im Gegensatz zu seinen Beinen waren seine Arme noch frisch, sodass er rasch an Höhe gewann, obwohl ihn die doppelte Rüstung an den Schultern beengte. Doch je weiter er kam, desto beunruhigender klang das Knarren des Seils und umso erschreckender sah der Abgrund aus, über dessen Rand er schaukelte. War es nur abkühlender Dunst, oder stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn?
Er zwang sich, den Blick nach oben zu richten und weiterzuklettern. Fast blieb ihm das Herz stehen. Bewegte sich dort etwas in den Schwaden? Er konnte den Elf beinahe vor sich sehen, der mit Davarons Lächeln das Seil durchschnitt. Doch der Moment verging, und er hing noch immer über dem Abgrund. Hol’s der Dunkle! Seit wann war er eine solche Memme? Energisch zog und schob er sich weiter. Dieser Angstzauber würde sicher ein Ende haben, sobald er oben angekommen war.
Sorgsam vermied er es, noch einmal nach unten zu blicken. Das Seil quoll in der dampfigen Luft auf, während seine Hände weich und feucht wurden. Immer tiefer schnitten die rauen Fasern in Athanors Haut. Der Abstand zu den ersten Segeln schrumpfte. Aus der Nähe sahen sie noch viel größer aus als erwartet, und die dichte Rohseide wogte im warmen Aufwind. Eine Art Veranda lief um das unterste Stockwerk des schwebenden Turms. Mit glitschigen Fingern griff Athanor nach der Kante. Das Holz war ebenso aufgeweicht und schlüpfrig wie sein Seil und bot keinen Halt. Er musste sich mit den Beinen ein weiteres Stück emporschieben, erst dann gelang es ihm, sich über die Kante zu stemmen.
Keuchend vor Anstrengung kroch er vom Rand weg und sank gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen. Er lauschte auf Schritte oder Stimmen, doch niemand schien ihn bemerkt zu haben. Außer den leisen Geräuschen der Segel war alles still. Athanor lugte durch eines der Fenster, das nur mit einem aus Ranken geflochtenen Gitter verschlossen war. Dahinter verlief ein Gang parallel zur Wand, von dem eine Tür abzweigte, doch sie war zu weit entfernt, um hineinzusehen.
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