Der letzte Massai
hinaufkletterten, ertönte ein Pfiff von dem Hügel und störte seine Gedanken. Das Herz wurde ihm schwer. Er ahnte, wie die Meldung lautete.
»Wie viele?«, fragte er.
»So viele«, erwiderte der Späher und hielt zehn Finger in die Höhe. »Sollen wir uns auf einen Kampf vorbereiten?«
Ole Sadera biss die Zähne zusammen. »Nein«, sagte er. »Wir werden nicht kämpfen.«
»Ssst!«
Der Laut kam von dem kleinen Loch in der Wellblechwand, das als Lichtquelle und Luftloch diente. Ole Sadera rappelte sich auf und schaute durch das Loch. Der abgehärmte und besorgt aussehende Mantira begrüßte ihn.
»Du lebst also«, sagte er.
»Ja, das tue ich. Was hast du denn erwartet?«
»Es hieß, sie hätten dich geschlagen.«
»Nicht der Rede wert.« Aber seine Hand wanderte instinktiv zu seinem geschwollenen, blutigen Auge, das die Wucht eines
Askari
-Gewehrkolbens zu spüren bekommen hatte. »Was machst du hier?«
»Ist das etwa der Empfang, den ein Freund verdient hat, der gekommen ist, um sich einen Pavianhintern durch ein Loch in der Wand anzusehen?«
»Tut mir leid, Nkapilil. Danke, dass du gekommen bist. Gibt es Neuigkeiten?«
»Die Ältesten haben mit dem Hauptmann der
Askaris
gesprochen. Du wirst freigelassen.«
»Wann?«
»Bald.«
»Und wie hoch ist der Preis dafür?«
»Darüber mach dir keine Gedanken. Es reicht aus, dass du deine klapprigen Knochen aus diesem stinkenden Eisenkäfig herausbekommst.«
»Wie viele Rinder?«
Mantira blickte verdrießlich drein. »Die halbe Herde.«
»Was? Das kann doch nicht wahr sein! Lieber würde ich hier drin verrotten!«
»Nein, das würdest du nicht. Und bilde dir nur nichts ein. Glaubst du etwa, dass deine Haut so viele Rinder wert ist? Nein, die Herdenbesitzer wurden ebenfalls bestraft.«
Welch eine Ironie! Da hatten sie ihre Rinder aus dem Reservat geführt, um sie zu retten, und sie dabei verloren.
»Das ist Lenanas Schuld. Wenn er nicht seine Kompetenzen überschritten und auf die britischen Forderungen eingegangen wäre, dass wir das große Tal verlassen, dann wäre das hier gar nicht passiert.«
Mantira zuckte mit den Schultern. »Die Briten akzeptieren sein Wort als Anführer.«
»Nun gut, wenn er diese Rolle anerkennt, dann soll er auch die Verantwortung für unser verhungerndes Vieh übernehmen. Soll er doch eine größere Weidefläche für unsere Herden fordern. Aber das wird er nicht tun, weil er die Briten nicht erzürnen möchte.«
»Das wissen wir nicht.«
»Nein. Wir wissen nichts über ihn; denn er ist niemals nach Entorror gekommen.«
Ole Sadera dachte an all die Feierlichkeiten, die vom
Laibon
durchgeführt wurden. Die wichtige
Eunoto
-Zeremonie stand bald an, doch der Zeitpunkt lag im Ermessen des
Laibon.
Ohne die
Eunoto
konnte der Übergang der Jungen in die nächste Kriegergeneration nicht vollzogen werden.
»Was sollen wir tun, mein Freund?«, fuhr er fort.
»Wir tun, was wir tun müssen. Nach dem, was mir zu Ohren gekommen ist, haben sie in Ngong ähnliche Schwierigkeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass es weiter im Süden sogar noch schlimmer ist. Die Dürre hat uns allen zugesetzt, aber sie wird vorübergehen. Wie all die anderen.«
»Ich habe nicht von der Dürre gesprochen. Ich meine, was sollen wir Purko tun? Wir sind ohne
Laibon.
Wie kann er seine Pflichten erfüllen, wenn er so weit entfernt ist? Was ist mit der
Eunoto?
Wer wird den Zeitpunkt bestimmen und die Zeremonie eröffnen? Durch sein Tun hat er diese Trennung über uns gebracht. Nun lässt er uns im Stich.«
»Es hat doch keinen Zweck, sich zu beklagen. Was können wir denn ausrichten?«
»Wir können seine Rolle selbst übernehmen.«
»Oh-ho! Es muss in dieser Blechkiste ja schlimmer sein, als ich gedacht hatte. Die Hitze scheint dich noch dümmer gemacht zu haben, als du es ohnehin schon bist. Die Pflichten des
Laibon
übernehmen? Du bist verrückt, mein Freund.«
»Nicht all seine Pflichten, Mistfliege. Nur jene, auf die wir nicht verzichten können, wie die Eröffnung der
Eunoto
-Zeremonie.«
Mantira schüttelte den Kopf. »Ist dir denn gar nichts heilig? Wie kommst du bloß immer auf solche Ideen?«
»Das spielt doch keine Rolle. Ich habe dir oft genug gesagt, dass wir das Heft in die Hand nehmen müssen, wenn die Älteren ihren Zweck nicht in unserem Sinne oder den Bedürfnissen der Massai entsprechend erfüllen. Diese Zeit ist nahe.«
Lord Delamere, der in seinem Frack ausnahmsweise einmal schmuck aussah, trat auf das Podium zu, hob um
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