Der letzte Massai
werden, ehe man ihn höflich bittet, den Beamten zur nächsten Wache zu begleiten, wo er vielleicht oder vielleicht auch nicht unter Anklage gestellt wird.«
Einige der Geschworenen nickten und lächelten grimmig.
Fenwick schloss sich ihrem Lächeln an, aber dann wurde er mit einem Mal ernst. Er lehnte sich auf das Geländer der Geschworenenbank und sagte: »Wir alle wissen nur zu gut, dass dieses ganze Prozedere dort draußen auf diesen leeren, windgepeitschten Ebenen des Great Rift Valley unmöglich ist. Ich bin sicher, dass jeder von Ihnen schon einmal von einem Eingeborenen bestohlen wurde. Es mag eine Kuh, ein Schaf, ein Korb Mais oder sogar Unterwäsche von der Wäscheleine gewesen sein. Jeder von Ihnen weiß nur zu gut, dass es ein Überlebenskampf ist. Denn da draußen« – er hob den Arm und deutete in einer dramatischen Geste auf die Fenster des Gerichtsgebäudes – »vermag das Gesetz dieser Sache nicht beizukommen. Es macht da draußen keinen Sinn.« Er hatte die Aufmerksamkeit eines jeden einzelnen Geschworenen und musterte sie mit seinen stahlgrauen Augen. Es war mucksmäuschenstill im Saal.
Dann wandte er sich mit einem Mal von der Geschworenenbank ab, machte zwei Schritte und rieb sich dabei, anscheinend in Gedanken versunken, das Kinn.
»Nein«, sagte er und drehte sich wieder zu ihnen um. »Erlauben Sie mir, es anders zu formulieren. Das Gesetz muss den ganz besonderen Umständen des Lebens in Afrika unter Menschen, die wenig Kenntnis vom britischen Rechtswesen haben und sich noch weniger darum scheren, angepasst werden. Jeder Einzelne in diesem Gerichtssaal verspürt Mitgefühl mit seinen Mitmenschen, davon bin ich überzeugt. Jeder Einzelne ist darauf bedacht, seiner Christenpflicht der Nächstenliebe nachzukommen. Aber hier draußen, so weit entfernt von Mutter England, verlangt das Überleben Wachsamkeit.«
Er blickte suchend in die Augen der Geschworenen, die in stummer Zustimmung nickten. Der eine oder andere war vielleicht sogar von Fenwicks Wortgewandtheit berührt.
Es hatte den Anschein, dass er mit dem zufrieden war, was er sah, und er fuhr fort: »Mein Mandant, Ihr Freund und Nachbar Galbraith Collins, hat sich über seine Christenpflicht hinweggesetzt und das getan, wozu das Gesetz nicht in der Lage gewesen ist. Er hat Gerechtigkeit walten lassen und eine klare und deutliche Botschaft an alle Missetäter gesandt, die da lautet:
Befolgt das Gesetz, sonst werdet ihr bestraft.
Meine Herren Geschworenen, ich glaube, dass wir Galbraith Collins Mitgefühl schulden, weil er derjenige gewesen ist, der es auf sich genommen hat, diese Botschaft zu senden, aber auch Dankbarkeit, dass er sich auf so tapfere Weise gegen Gesetzlosigkeit gewehrt hat. Meiner Dankbarkeit kann er sich gewiss sein, und ich will hoffen, auch der ihren.«
Damit kehrte Fenwick an seinen Platz zurück.
Ein Murmeln erhob sich im Saal. Der Richter räusperte sich und bat um Ruhe. Dann wandte er sich an die Geschworenen, wiederholte noch einmal ihre Verantwortlichkeiten und die Abläufe, die zu befolgen waren, nachdem sie sich zurückgezogen hatten, um zu einem Urteil zu gelangen.
»In diesem Fall«, sagte der Richter und blickte über seine Brille hinweg, »belehre ich Sie, dass es ungeachtet der Meinung von Mr. Fenwick, das Gesetz in Afrika bedürfe der Anpassung, hier und heute nicht Ihre Pflicht ist, darüber zu entscheiden. Genauso wenig wie Sie zu berücksichtigen haben, welche Strafe das Gericht verhängen könnte. Trotz Mr. Fenwicks eloquenter Schlussfolgerung mangelt es diesem Gericht nicht an Mitgefühl. Ihre oberste Pflicht besteht darin, die schlichten Fakten des Falles zu beurteilen. Der Massai-Krieger Toiran wurde von dem Angeklagten erschossen. Dies hat er zugegeben und keine Reue gezeigt. Sie haben keine andere Wahl, als ein dementsprechendes Urteil zu fällen.« Er ließ seinen Hammer mit einem lauten Knall auf den Sockel niedersausen und sagte: »Die Geschworenen ziehen sich zurück, um über das Urteil zu beraten.«
Zehn Minuten später kehrten sie zurück.
Der Richter forderte den Sprecher auf, im Namen der Geschworenen zum Gericht zu sprechen. »Wie befinden Sie den Angeklagten, schuldig oder nicht schuldig?«
Der Sprecher der Geschworenen stand aufrecht da, die Augen auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, und antwortete: »Wir befinden den Angeklagten in allen Anklagepunkten für nicht schuldig.«
Kapitel 33
C oll erreichte das Dorf Rumuruti auf dem Laikipia-Plateau. Er war
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