Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
Jackenärmel über meine Hand und fege damit Asche vom Wagen in den Schnee.
»Ich hab im Revier angerufen«, sagt Nico. »McGully hat mir gesagt, wo ich dich finden kann.«
»Das hätte er nicht tun sollen. Ich arbeite.«
»Ich brauche deine Hilfe. Ernsthaft.«
»Tja, ich arbeite ernsthaft. Würdest du bitte vom Auto steigen?«
Stattdessen streckt sie die Beine aus und lehnt sich auf die Windschutzscheibe zurück, als läge sie auf einer Strandliege. Sie trägt den dicken Militärwintermantel, der unserem Großvater gehört hat, und ich sehe, wo die Messingknöpfe kleine Kratzer in den Lack des Impala machen.
Ich wünschte, Detective McGully hätte ihr nicht gesagt, wo sie mich finden kann.
»Ich will dir ja nicht auf den Wecker gehen, aber ich flippe aus, und wozu hat man einen Cop zum Bruder, wenn er einem nicht helfen will?«
»In der Tat«, sage ich und schaue auf meine Uhr. Es hat wieder leicht zu schneien begonnen, einzelne, langsam herabrieselnde Flocken.
»Derek ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich weiß schon, was du sagen wirst – okay, sie haben sich wieder in die Haare gekriegt, er ist abgehauen. Aber die Sache ist die, Hen: Diesmal haben wir uns nicht in die Haare gekriegt. Kein Streit, gar nichts. Wir haben zu Abend gegessen. Er sagte, er müsste mal raus. Er wollte einen Spaziergang machen. Also hab ich gesagt, klar. Ich hab die Küche sauber gemacht, einen Joint geraucht und bin ins Bett gegangen.«
Ich sehe sie finster an. Meine Schwester findet es ganz toll, glaube ich, dass sie jetzt Gras rauchen darf, dass ihr Polizistenbruder ihr deswegen keine Vorhaltungen mehr machen kann. Für Nico ist das ein Lichtblick, denke ich. Sie nimmt einen letzten Zug und wirft die Kippe in den Schnee. Ich hocke mich hin, hebe den erloschenen Zigarettenstummel mit zwei Fingern auf und halte ihn hoch. »Ich dachte, dir läge was an der Umwelt.«
»Nicht mehr so viel«, sagt sie.
Nico setzt sich wieder aufrecht hin und zieht den dicken Kragen des Mantels enger um sich. Meine Schwester könnte so schön sein, wenn sie nur ein wenig auf sich achten würde – sich die Haare kämmen, hin und wieder ein bisschen schlafen. Sie ist wie ein Ebenbild unserer Mutter, ein Bild, das jemand zerknüllt und wieder glatt zu streichen versucht hat.
»Dann ist es Mitternacht, und er ist immer noch nicht wieder da. Ich hab ihn angerufen, keine Antwort.«
»Vielleicht ist er in eine Bar gegangen«, werfe ich ein.
»Ich hab in allen Bars angerufen.«
»In allen?«
» Ja , Hen.«
Es gibt jetzt viel mehr Bars als früher. Vor einem Jahr gab es Penuche’s und das Green Martini, und das war’s so ziemlich. Jetzt gibt es jede Menge Läden, manche mit Lizenz, manche ohne, teilweise nur Kellerwohnungen, in denen jemand eine Badewanne voller Bier, eine Kasse und einen auf »Shuffle« eingestellten iPod hat.
»Dann ist er zu einem Freund gegangen.«
»Ich hab sie angerufen. Jeden. Er ist weg.«
»Er ist nicht weg«, sage ich, und was ich nicht sage, ist die Wahrheit, nämlich: Wenn Derek sich wirklich vom Acker gemacht hätte, wäre es das Beste, was meiner Schwester seit Langem passiert ist. Sie hatten am 8. Januar geheiratet, am ersten Sonntag nach dem Tolkin-Interview. Dieser Sonntag hält seitdem offenbar den Rekord für die meisten Hochzeiten an einem einzelnen Tag, einen Rek ord, der wohl kaum mehr gebrochen werden dürfte, es sei denn am 2. Oktober.
»Hilfst du mir nun oder nicht?«
»Ich hab’s dir doch gesagt, ich kann nicht. Nicht heute. Ich arbeite an einem Fall.«
»Herrgott, Henry.« Ihre einstudierte Unbekümmertheit ist ganz plötzlich weg. Sie springt vom Wagen und stößt mir einen Zeigefinger vor die Brust. »Ich hab meinen Job hingeschmissen, sobald wir wussten, dass diese Scheiße wirklich passieren würde. Ich meine, wozu Zeit bei der Arbeit verschwenden?«
»Du hast drei Tage pro Woche auf einem Bauernmarkt gearbeitet. Ich löse Mordfälle.«
»Oh, Verzeihung. Tut mir leid. Mein Mann wird vermisst.«
»Er ist nicht wirklich dein Mann.«
»Henry.«
»Der kommt schon wieder, Nico. Das weißt du.«
»Ach ja? Was macht dich so sicher?« Sie stampft mit dem Fuß auf, ihre Augen blitzen, und sie wartet nicht auf eine Antwort. »Und was hast du nun so Wichtiges zu tun?«
Was soll’s, denke ich und erzähle ihr von dem Zell-Fall, erkläre ihr, dass ich gerade aus der Leichenhalle komme, dass ich dabei bin, neue Spuren zu finden, und versuche ihr klarzumachen, dass so eine laufende
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