Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
ruht auf seiner Arbeit, er hält die Mokkatasse in der Hand und bewegt sie vorsichtig, zaubert ein Muster aus dunklem Kaffee und wolkigem Schaum herbei. »Ich habe angewandte Mathematik studiert«, sagt er mit einer leichten Kopfbewegung Richtung Harvard. Er blickt strahlend auf. »Aber Sie wissen ja, was man so sagt«, schließt er und stellt mir meinen Latte hin, auf dem ein perfektes, symmetrisches Eichenblatt aus Milchschaum prangt. »Das hat keine Zukunft.«
Er lächelt, und ich soll lachen, aber ich lache nicht. Mein Auge tut weh. Meine Lippe zuckt, wo ich geschlagen worden bin.
»Also, richten Sie’s ihr aus? Dass Henry hier war?«
»Ja, Kumpel. Mach ich.«
»Und bitte sagen Sie ihr …« Wissen Sie was? In diesem Moment, warum nicht? »Sagen Sie ihr, Palace muss wissen, was mit diesem ganzen Jules-Verne-Mondflug-Humbug vertuscht werden soll. Sagen Sie ihr, ich weiß, dass mehr an der Sache dran ist, und ich will wissen, wer diese Leute sind und was sie wollen.«
»Wow. Also, das ist echt mal ’ne Nachricht.«
Ich zücke meine Brieftasche, aber der Coffee Doctor hebt die Hand und legt sie auf meine.
»Nein, nein«, sagt er. »Geht aufs Haus. Ich muss ehrlich sein, mein Freund. Sie sehen nicht besonders gut aus.«
3
Als Detective muss man alle Möglichkeiten bedenken und sämtliche vorstellbaren Ereignisketten, die zu einem Verbrechen geführt haben könnten, abwägen, um zu entscheiden, welche am wahrscheinlichsten sind, welche sich als wahr erweisen könnten.
Als Naomi ermordet wurde, suchte sie nach Peters Akten, weil sie wusste, dass ich scharf darauf war, und weil sie mir bei meinen Ermittlungen helfen wollte.
Als Naomi ermordet wurde, suchte sie nach den Akten, um sie zu verstecken, bevor ich sie finden konnte.
Jemand hat sie erschossen. Ein Fremder? Ein Komplize? Ein Freund?
Ich fahre eine Stunde lang von Cambridge nach Concord zurück, eine Stunde auf einem toten Highway mit mutwillig zerstörten Ausfahrtsschildern; Hirsche stehen ängstlich am Rand der Interstate 93 North. Ich denke an Naomi in der Tür meines Schlafzimmers, Montagnacht. Je mehr ich über diesen Augenblick nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt: Was immer sie mir zu sag en hatte – was immer sie sagen wollte und dann doch nicht sagte –, es war nicht bloß etwas Gefühlvolles oder Zwischenmenschliches. Es war von Bedeutung für den Verlauf meiner noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen.
Aber steht man halb angezogen im Mondschein und erzählt jemandem eines noch über Anfechtungsklauseln und versicherbares Interesse?
Es war etwas anderes, und ich werde nie erfahren, was. Aber ich will es wissen.
Beim Polizeipräsidium in der School Street stelle ich den Wagen für gewöhnlich auf dem Parkplatz ab und benutze die Hintertür, die zur Garage führt. An diesem Nachmittag gehe ich aus irgendeinem Grund vorn herum und nehme den Haupteingang, den Besuchereingang, durch den ich das Gebäude zum ersten Mal betreten habe, als ich vier oder vielleicht fünf Jahre alt war. Ich sage Miriam hinter dem Anmeldeschalter Hallo, wo früher meine Mutter gearbeitet hat, und gehe nach oben, um Naomi Eddes’ Angehörige anzurufen.
Das Dumme ist nur, jetzt bin ich hier oben, und der Festnetzanschluss funktioniert nicht.
Kein Freizeichen, kein gar nichts. Totes Plastik. Ich hebe das Kabel hoch, folge ihm bis zum Stecker und dann zurück zum Schreibtisch, drücke ein paarmal auf die Gabel. Ich schaue mich im Raum um und beiße mir auf die Unterlippe. Alles ist so wie immer: Die Schreibtische stehen an ihrem Platz, die Papierstapel, Aktenschränke, Sandwich-Verpackungen und Getränkedosen, das matte Winterlicht, das schräg durchs Fenster fällt. Ich gehe zu Culversons Schreibtisch, nehme bei ihm den Hörer ab. Genau dasselbe: kein Freizeichen, kein Leben. Sanft lege ich den Hörer wieder auf.
»Hier läuft irgendeine Scheiße«, sagt Detective McGully, der mit verschränkten Armen in der Tür erscheint, die Ärmel des Sweatshirts hochgeschoben, Zigarre seitlich aus dem Gesicht ragend. »Stimmt’s?«
»Tja«, sage ich. »Das Telefon ist tot.«
»Nur die Spitze des beschissenen Eisbergs«, knurrt er und wühlt in der Tasche seiner Jogginghose nach einer Streichholzschachtel. »Da ist irgendwas im Busch, Frischling.«
»Hm«, sage ich, aber er meint es ernst, todernst – seit ich ihn kenne, habe ich noch nie so einen Gesichtsausdruck bei ihm gesehen. Ich gehe zu Andreas’ Schreibtisch, nehme den Stuhl herunter, probiere es mit
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