Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
seinem Telefon. Nichts. Ich höre die Mecki-Mäuse in dem kleinen Kaffeezimmer zwei Türen weiter, laute Stimmen, jemand wiehert auf, jemand plappert: »Also sage ich … ich sage … wartet, hört zu.« Irgendwo knallt eine Tür; draußen eilen Schritte in die eine und die andere Richtung.
»Bin in den Chief reingelaufen, als ich heute Morgen gekommen bin«, McGully schlendert in den Raum, lehnt sich neben dem Heizkörper an die Wand, »und ich sage ›Hey, Arschloch‹, so wie immer, und er geht einfach an mir vorbei. Als wäre ich ein Geist.«
»Hm.«
»Jetzt findet da gerade eine Besprechung statt. In Ordlers Büro. Die ganze Führungsspitze des Departments. Dazu noch ein Haufen Idioten, die ich nicht kenne.« Er saugt an der Zigarre. »Mit Panorama-Sonnenbrillen.«
»Sonnenbrillen?«
»Ja«, sagt er, » Sonnenbrillen «, als würde das etwas bedeuten, aber worauf er auch immer hinauswill, ich kapiere es nicht, und ich höre sowieso nur mit halbem Ohr zu. An meinem Hinterkopf, dort, wo ich heute früh gegen die Ziegelmauer auf dem Eagle Square geknallt bin, ist eine kleine, empfindliche Schwellung.
»Merk dir, was ich sage, Kleiner.« Er deutet mit seiner nicht angezündeten Zigarre auf mich, fuchtelt mit ihr herum wie der Geist der zukünftigen Weihnacht. »Irgendwas geht da vor, verdammt noch mal.«
Im Foyer der Zentrale der Öffentlichen Bücherei von Concord ist eine hübsche Präsentation von Klassikern zu sehen, die größten Hits des westlichen Kanons, zu einer ordentlichen Pyramide aufgestapelt: die Odyssee , die Ilias , Aischylos und Vergil bilden das Fundament, Shakespeare und Chaucer die zweite Reihe, dann aufwärts und vorwärts in der Zeit bis hin zu Fiesta als Schlussstein. Niemand hat es für nötig gehalten, der Präsentation einen Titel zu geben, obwohl das Thema eindeutig lautet: Was man vor seinem Tod gelesen haben muss . Irgendwer, vielleicht derselbe Scherzbold, der ständig den R.E.M .-Song in der Jukebox des Penuche’s laufen ließ, hat eine Taschenbuchausgabe von Das letzte Ufer eingeschmuggelt, zwischen Middlemarch und Oliver Twist . Ich nehme sie heraus, bringe sie in die Belletristik-Abteilung und stelle sie ins Regal zurück, bevor ich in den Keller gehe, wo sich der Präsenzbestand befindet.
Das muss es in einem prädigitalen Zeitalter bedeutet haben, Polizist zu sein, denke ich, während ich die Arbeit auf geradezu körperliche Weise genieße. Ich grabe das dicke Telefonbuch für die Kleinstädte in Maryland aus, schlage es schwungvoll auf, fahre mit dem Zeigefinger über die winzigen Buchstabenkolonnen, durchblättere die hauchdünnen Seiten nach einem Namen. Wird es auch hinterher noch Polizisten geben? Ich weiß es nicht. Nein, es wird keine geben – irgendwann einmal wieder, vielleicht, aber für eine ganze Weile nicht.
Es gibt drei Einträge für Eddes in Gaithersburg, Maryland, und ich schreibe die Nummern sorgfältig in mein blaues Buch und gehe wieder ins Foyer hinauf, vorbei an Shakespeare und John Milton, zu einer altmodischen Telefonzelle am Haupteingang. Dort hat sich schon eine Schlange gebildet, und ich warte ungefähr zehn Minuten, schaue aus den hohen Art-déco-Fenstern, und mein Blick bleibt an den dünnen Zweigen einer kleinen grauen Amerikanischen Hainbuche vor dem Eingang der Bücherei hängen. Dann betrete ich die Zelle, hole tief Luft und fange an zu wählen.
Ron und Emily Eddes, Maryland Avenue. Niemand geht dran, nicht mal der AB .
Maria Eddes, Autumn Hill Place. Sie nimmt ab, aber erstens klingt sie sehr jung, und zweitens spricht sie nur Spanisch. Es gelingt mir, sie zu fragen, ob sie eine Naomi Eddes kenne, und es gelingt ihr, die Frage zu verneinen. Ich entschuldige mich und lege auf.
Draußen nieselt es schon wieder. Ich wähle die letzte Nummer, und während es klingelt, sehe ich zu, wie ein einzelnes, einsames, eiförmiges Blatt, das ganz allein an der äußersten Spitze eines verdrehten Astes hängt, von den Regentropfen bombardiert wird.
»Hallo?«
»William Eddes?«
»Bill. Wer ist da?«
Ich beiße die Zähne zusammen. Lege die Hand an die Stirn. Mein Magen ist ein fester schwarzer Knoten.
»Sind Sie mit einer Frau namens Naomi Eddes verwandt, Sir?«
Die Pause, die darauf folgt, ist lang und schmerzhaft. Dies ist ihr Vater.
»Sir?«, sage ich schließlich.
»Wer ist da?« Seine Stimme ist angespannt, kalt und förmlich.
»Detective Henry Palace«, sage ich. »Ich bin Polizist in Concord, New Hampshire.«
Er legt auf.
Das
Weitere Kostenlose Bücher