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Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Regent: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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das Licht von den vielen Sternen am Nachthimmel über Bluestone. Aber es war nicht ganz so hell, denn der Wald lichtete sich hier nur ein wenig, wich nicht ganz zurück. Weiter unten spiegelte sich der Glanz der Sterne auf einem Fluss wider, dessen schäumende Fluten sich einen Weg zwischen Felsen bahnten. Der Ast führte noch etwas weiter hinab, und von seiner tiefsten erreichbaren Stelle waren es noch mindestens dreißig Meter bis zum Midon. Das Donnern und Rauschen der gegen die Felsen klatschenden und über sie hinwegschwappenden Wellen klang laut herauf.
    Pribylla schob sich nach unten, bis ein warnendes Knirschen von dem Ast kam.
    »Und jetzt?«, fragte Vandover fast spöttisch. »Sie wollen doch nicht etwa aus dieser Höhe springen, oder?«
    »Haben Sie eine bessere Idee?« Pribylla steckte Navigationsgerät und Waffe ein und drückte die Haftverschlüsse der Hosentaschen fest zu. Laurania wechselte einen Blick mit ihr, schaltete die Lampe aus und verstaute sie in der eigenen Hosentasche, während Pribylla den Rucksack an ihrem Gürtel festband.
    »Es wäre der sichere Tod«, sagte Vandover.
    »O nein«, erwiderte Pribylla. »Der sichere Tod befindet sich hinter Ihnen.«
    Als sich Vandover umsah, drehte Xavius ebenfalls den Kopf und sah, wie auch der Ast seine Rinde verlor. Erste Springkäfer krabbelten hervor. Und weiter hinten kroch ein Schlangen-Äquivalent aus einem Dornendickicht und glitt über den Ast, ohne auf die Käfer zu achten.
    Ein Gefühl von Endgültigkeit erfasste Xavius. Hier stand er, auf einer fremden Welt, beziehungsweise über ihr, auf einem Ast, der sich in eine Todesfalle verwandelte, und die einzige Möglichkeit, mit dem Leben davonzukommen, bestand aus einem Sprung in die Tiefe. Wer hätte das gedacht?, fuhr es ihm durch den Sinn. Noch vor Kurzem hatte er an der Biografie des berühmten Generals Titus M Izzad gearbeitet, sich davon weiteren Aufstieg und vielleicht sogar eine Möglichkeit erhofft, die Stille Stadt auf der Erde zu erreichen. Für einen Moment – für einen wundervollen, gloriosen Moment – hatte er den in greifbare Nähe gerückten Ruhm genossen, als persönlicher Chronist des Regenten. Doch dann, als er schon geglaubt hatte, dass alle seine Wünsche in Erfüllung gingen, war seine Welt zusammengebrochen. Die Ereignisse hatten ihm seine Träume gestohlen, seine Zukunft zerstört, und was blieb, waren die Trümmer eines Lebens, das ihm jetzt wie ferne Vergangenheit erschien, wie ein schöner Traum, von der Realität zerrissen und zerfetzt. Hier stand er, der erste Chronist des Enduriums, einst im Mesh die Stimme der Wahrheit, jetzt ein doppelter Mörder.
    Die Springkäfer sprangen, die Schlange zischte, und unten donnerte der Fluss. Ich kann wählen, dachte Xavius. Ich kann mir die Art meines Todes aussuchen.
    Spring, du Narr!, sagte der Chronass.
    »Es gibt immer Hoffnung«, sagte er und zitierte damit den General.
    Dafür bekam er von Laurania ein anerkennendes Lächeln.
    »Also los!«, rief Pribylla und sprang. Laurania holte tief Luft und sprang ebenfalls.
    »Kommt nicht infrage!«, stieß Vandover hervor. »Ich werde auf keinen Fall …«
    Xavius schlang den Arm um ihn, stieß sich ab und fiel.
    Das lauter werdende Donnern des Flusses übertönte Vandovers Schrei.

Fremde Wirklichkeiten
    36
    Es war nicht das erste Mal, dass Xavius sein Patientenzimmer verließ, aber es geschah zum ersten Mal allein. Als er den Knauf berührte, stellte er überrascht fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Das kühle Metall reagierte auf die Wärme seiner Hand, es klickte, und die Tür schwang auf.
    Niemand stand im Flur. Niemand trat ihm entgegen. Niemand forderte ihn auf, in sein Zimmer zurückzukehren und dort ein Glas mit blauer Flüssigkeit zu trinken.
    Neugierig geworden und auch voller Hoffnung wanderte er durch den leeren, stillen Flur. Er erinnerte sich daran, wie Marta ihn nach draußen in den Park geführt hatte. Unterwegs hatte er Ärzte und Pflegepersonal gesehen, auch andere Patienten in der cremefarbenen Kleidung, die sie alle trugen. Er hatte ihre Stimmen gehört und ihre Gesichter gesehen, Kummer und Schmerz in manchen von ihnen. Er hatte, hier und dort, das Klappern von Instrumenten gehört und sich gefragt, ob einige der anderen Kranken ebenfalls blaue Medizin bekamen, ob sie sich wie er nach Flügeln sehnten, mit denen sie davonfliegen konnten, hoch über den blauen Bäumen und dem blutroten See. Aber jetzt hatte die Stille nur Platz für die Geräusche, die

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