Der letzte Regent: Roman (German Edition)
er verursachte, das leise Klacken seiner Schritte auf den glatten Fliesen, das noch leisere Zischen seines Atems. Vielleicht bin ich aufgewacht, dachte er, als er die Treppe hinunterging, die er auch mit Marta hinuntergegangen war. Vielleicht habe ich alles andere nur geträumt.
Konnte man schlafen und davon träumen, dass man schlief und träumte? Und konnte man in diesen ineinander verschachtelten Träumen glauben zu erwachen?
Unten in der Eingangshalle hielt sich ebenfalls niemand auf. Neben den großen Pflanzen, die in der Mitte der Halle wuchsen und ihre gezackten Blätter, blau wie Opal, dem hellen Lichtschacht über ihnen entgegenstreckten, standen mehrere Bewegungshelfer. Es waren herrenlose Apparate: Niemand saß darin, um sich von den maschinellen Assistenten durchs Gebäude oder nach draußen tragen zu lassen.
Nach draußen …
Xavius ging schneller, zur breiten Tür, doch dort musste er feststellen, dass der Ausgang zugemauert worden war, mit Ziegelsteinen fast so rot wie der See bei den blauen Bäumen. Von hier aus konnte er nicht einmal in den Park blicken, denn Stahlblenden hatten sich vor den Fenstern geschlossen. Erst jetzt merkte er, dass es im Erdgeschoss des Hospitals nicht so hell war wie sonst. Düsternis kroch aus den Ecken und Winkeln des großen Raums.
Xavius drehte sich um die eigene Achse und rief: »Ist hier jemand? Hört mich jemand?«
Es blieb nicht ganz still. Ein Flüstern kam von der Treppe, von dort, wo sie weiter nach unten führte, zu den beiden Tiefgeschossen. Xavius näherte sich den Stufen, sah hinab und fragte: »Ist da jemand?«
»Xavis V Xavius, die Kommission wartet auf Sie«, erklang eine Stimme. Es war eine fremde Stimme, die er hier, in diesem Krankenhaus, noch nie gehört hatte, wohl aber an einem anderen Ort.
Langsam ging er die Treppe hinab. Mattes Licht kam von Leuchtkörpern, die in die Wände integriert waren. Im ersten Kellergeschoss blieb er stehen und fragte: »Wartet sie hier auf mich, die Kommission?«
»Sie müssen die Wahrheit sagen, Xavis V Xavius.« Die Stimme war jetzt deutlicher, eine scharfe, schneidende Stimme, mit etwas Rauem dahinter. »Sie müssen aus Ihren Träumen in die Realität zurückkehren und die Wahrheit sagen.«
Die Wahrheit, dachte er und ging bis zum Ende der Treppe. Was ist die Wahrheit? Wo versteckt sie sich? Vielleicht in einem Glas mit blauer Medizin?
Als er von der letzten Stufe trat, die nicht höher war als die anderen, hatte er für einen Moment das Gefühl, viele Meter tief zu fallen. Er wankte und torkelte, machte zwei schnelle Schritte und stützte sich an der Wand ab, bis die Beine unter ihm nicht mehr zitterten. Dies war fester Boden; nichts gab nach. Hier konnte niemand in die Tiefe stürzen, in einen … reißenden Fluss? Wie absurd.
Xavius schüttelte den Kopf und bedauerte fast, sein Zimmer verlassen zu haben. Vielleicht wäre es besser gewesen, auf Marta zu warten, die ihm mehr von der Medizin brachte, oder einfach nur aus dem Fenster zu sehen. Vielleicht hätte er beobachten können, wie sich bei den blauen Bäumen ein weiteres Springhörnchen in einen gelben Vogel verwandelte.
Er blieb vor einer Tür stehen, von der er wusste, dass es die richtige Tür war. Auch hier reagierte der Knauf sofort auf die Wärme seiner Hand. Es klickte leise, und die Tür schwang vor ihm auf.
Dort saß sie, die Kommission, an einem halbkreisförmigen Tisch, vor dem ein einfacher Stuhl stand. Ein milchiger Schein fiel darauf, von einer Lampe, die direkt darüber an einem dünnen Kabel hing. Die Mitglieder der Kommission, Männer und Frauen, die meisten von ihnen alt und grau, saßen im Halbdunkel. In der Mitte des Halbkreises stand ein Mann, hager, im farblosen Gesicht die Spiralen alter Tätowierungen. Kein Purist, aber trotzdem Mitglied des Gremiums. Fünfhundert Jahre alt und nach dem Regenten der mächtigste Mann des Enduriums: Quintus M Quiron, Vorsitzender des Gremiums und offenbar auch der Kommission.
»Stehen Sie auf, Xavis V Xavius«, sagte der tote, unsterbliche Quiron, und der Vokalisator vor seinem Mund gab der Stimme Schärfe.
Xavius merkte, dass er auf dem Stuhl saß, im Schein der Lampe. Er stand auf.
»Sagen Sie die Wahrheit, Chronist. Haben Sie es getan, ja oder nein?«
Da war sie, die Wahrheit. Sie steckte nicht in einem Glas, schimmerte nicht in blauer Flüssigkeit, sondern brannte auf seiner Zunge, wurde immer heißer, und er wusste: Wenn er sie im Mund behielt, wenn er sie nicht aussprach, würde sie
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