Der letzte Regent: Roman (German Edition)
Ursprung des Geräuschs und fand es am Rand des Floßes: das Navigationsgerät. Es lag dort, wo Wellen über morsches Holz schwappten. Laurania nahm es. »Das Display zeigt ein Gefahrensymbol.«
»Ich dachte, das Gerät ist defekt.«
Laurania schüttelte es, und dann fiel ihr offenbar etwas ein, denn sie ließ den Navigator erschrocken sinken und blickte nach vorn, dorthin, wo der Midon hinter einer weiten Kurve verschwand.
»O nein«, sagte Xavius, der zu verstehen glaubte. »Sagen Sie nicht, dass wir uns einem Wasserfall nähern.«
»Es gibt keine Wasserfälle auf Bluestone«, erwiderte Laurania. »Zumindest sind mir keine bekannt. Aber …« Das Piepen wiederholte sich. Laurania hob den Navigator und sah erneut aufs Display. »Ich fürchte, wir nähern uns einem Vortex.«
»Einem was?« Die Strömung war merklich schneller geworden, und in der Flussbiegung entstanden auf den Wellen weiße Wildwasserkämme.
»Ich meine einen Strudel. Kennen Sie die Legende vom Mahlstrom?« Das Rauschen war so laut geworden, dass Laurania die Stimme hob.
Xavius schüttelte den Kopf.
»Sie geht auf die Edda zurück, eine alte Heldensage von der Erde. Der Mahlstrom bezeichnet jenen Ort, wo am Meeresgrund gewaltige Mühlsteine das Meer salzig mahlen.«
»Was für ein Unsinn.«
»Es handelte sich um eine Sage aus dem prätechnologischen Zeitalter der Menschheit«, sagte Laurania. »Vieles davon hat symbolhaften Charakter.«
»Hilft uns das irgendwie weiter?«
Wieder piepte das Navigationsgerät, und Laurania sagte: »Entfernung bis zum nächsten Stützpunkt: vier Komma drei Kilometer.«
Xavius hatte plötzlich eine Idee. »Ich könnte versuchen, mit meinen Mikromaschinen ein Richtstrahlsignal zu senden. Wenn ich weiß, wo genau sich die Basis befindet …«
»Vier Komma drei Kilometer vor und siebenhundert Meter unter uns. Der Stützpunkt befindet sich im subplanetaren Höhlensystem.«
»Was?« Das Rauschen wurde zu einem Donnern, und das Floß tanzte auf den Wellen. Einer der verknoteten Faserstränge gab nach, und ein großer Holzblock, einst Teil eines Baumriesen, löste sich vom Rest des Floßes und trieb fort.
Laurania deutete nach vorn. Steile Klippen drängten den Wald von den Ufern zurück und bildeten einen Felskessel am Ende der Flussbiegung, eine Sackgasse, in der die Fluten des Midon gegen hoch aufragende Felswände brandeten. Gischt spritzte Dutzende von Metern hoch und bildete eine nebelartige Wolke. Mitten in dem wogenden, weißen Chaos gab es eine Zone der Ruhe, wie das Auge im Zentrum eines Wirbelsturms, und dort öffnete sich der Vortex: ein gewaltiger Strudel, der das wilde Wasser ansaugte wie ein Schwarzes Loch Materie und Strahlung, es in dunkle Tiefe riss.
Ich frage mich, wieso das Navigationsgerät so freimütig über versteckte Minerva-Stützpunkte Auskunft gibt, sagte der Chronass in Xavius’ Kopf. Hätte Pribylla nicht befürchten müssen, dass es in die falschen Hände gerät?
Xavius hörte die Worte, aber seine Aufmerksamkeit galt vor allem dem gewaltigen Strudel, der einige Hundert Meter vor ihnen den ganzen zwischen hohen Felswänden gefangenen Fluss verschlang. Wie konnte der Chronass so ruhig bleiben?, fragte er sich. Und wie konnte Laurania so ruhig bleiben, dass ihr sogar alte Verse einfielen?
Es könnte natürlich sein, dass das Gerät auf Pribyllas Biosignatur programmiert war, und auch auf die von Laurania, fuhr der Chronass fort. Trotzdem erscheint es mir seltsam, dass Minerva mit wichtigen Daten so leichtfertig umgeht.
Xavius achtete nicht mehr auf die Stimme in seinem Innern. »Wir müssen an Land!«
»Ohne Ruder?«
Der Tanz des Floßes wurde heftiger. Wasser schwappte übers alte Holz.
Laurania zerrte an den Fasersträngen.
»Was haben Sie vor?«, rief Xavius.
»Wir müssen uns festbinden! Nur dann können wir hoffen, den Sturz in die Tiefe zu überleben.« Laurania begann damit, Holzstücke auf der einen Seite zu lösen – die Wellen griffen sofort danach und zerrten sie fort.
Plötzlich kippte das Floß in ein Wellental, und Xavius verlor den Halt. Er fiel, hielt sich im letzten Moment an einem Zweigbündel fest, aber seine Beine glitten in den Fluss. Dann spürte er, wie sich seine Wahrnehmung verschob, als die Mikromaschinen auf etwas reagierten. Er trat Wasser und versuchte verzweifelt, sich ganz aufs Floß zu ziehen, um dem Fluss und vor allem den hungrigen Geschöpfen darin zu entkommen. Laurania half ihm, und als er ganz auf dem nassen Holz lag, hörte der Tanz
Weitere Kostenlose Bücher