Der letzte Regent: Roman (German Edition)
des Floßes plötzlich auf – es hatte den Rand des »Auges« erreicht. Wir sind am Ereignishorizont des Vortex, dachte Xavius. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Nur noch Sekunden trennen uns vom Sturz in die Tiefe, und ob festgebunden oder nicht: Wir können ihn unmöglich überleben.
Etwas bewegte sich in der hohen Gischtwolke über dem Felsenkessel, und gleichzeitig begriff er, dass seine Mikromaschinen energetische Emissionen empfangen und einen Luftwagen identifiziert hatten.
Ein zehn Meter langes Vehikel aus Synthmetall glitt ihnen entgegen, wie ein mächtiger Fisch, der aus den brodelnden Fluten vor den Felswänden gesprungen war. Er öffnete ein Maul, aber es befand sich an der falschen Stelle, nicht vorn, sondern an der Seite, und in der Öffnung erschien eine Gestalt.
»Achtung, ich schicke euch einen Gravanker!«
Monodirektionale Signale, stellte Xavius’ Schwarm fest. Der Mann in der Luke des Luftwagens benutzte einen speziellen Vokalisator, um sich trotz des Donnerns der Wassermassen verständlich zu machen.
Etwas schwirrte heran, eine kleine silberne Kugel, und für einen Augenblick des Schreckens hielt Xavius das Objekt für einen Lokalisator. Laurania griff danach und legte die Kugel aufs Floß, woraufhin Xavius’ Mikromaschinen neue Emissionen feststellten. Der Gravanker befand sich plötzlich im Zentrum eines lokalen Gravitationsfelds und hielt das Floß fest. Er war dem Strudel so nahe, dass Xavius einen Blick in die dunkle Mahlstromtiefe werfen konnte, als er aufstand. Der Luftwagen ging tiefer, grau und wuchtig, von seinen Gravitatoren über den reißenden Fluten gehalten, und kam so nahe heran, dass Laurania die ausgestreckte Hand des Mannes ergreifen konnte. Ein Schritt nach vorn, der Mann zog – er schien sehr kräftig zu sein –, und die kleine, zarte Laurania, deren Bruder auf der fernen Erde verschollen war, befand sich an Bord des Luftwagens. Sofort drehte sie sich um und rief: »Komm, Xavis!«
Xavius’ Mikromaschinen schrien einen Alarm, und einen Herzschlag später jagte etwas hell und heiß an ihm vorbei, so hell, dass es ihn blendete, und heiß genug, um die Nässe in seinem Gesicht verdampfen zu lassen. Auf der anderen Seite des Kessels spritzte nicht mehr nur die Gischt, sondern auch verflüssigtes Felsgestein, und dahinter stand plötzlich ein Baumriese des Waldes in Flammen.
Ein Kanonenboot des Enduriums fiel vom Himmel.
»Komm!«, rief Laurania.
Zwei Hände packten ihn, die eines Mannes, groß und kräftig, und die einer Frau, klein und zart. Xavius fühlte sich nach oben gezogen und war erst halb durch die Luke, als der Luftwagen abrupt zur Seite kippte und einem zweiten Pulser-Blitz auswich, der eine Fontäne aus Dampf und kochendem Wasser nach oben schickte.
Dann schloss sich die Luke, und durch das Fenster daneben war zu sehen, wie der Luftwagen in den Strudel stürzte.
38
Als Junge, als Schüler und Auszubildender am Mnemonischen Institut in Ibbemma auf Tibetian, hatte Xavis V Xavius zwischen den Karma-Sitzungen, die Wissen in seinem Gehirn verankerten und die Neuronen auf Mikromaschinen vorbereiteten, davon geträumt, ein Wanderer zwischen den Welten zu werden und zu den fernsten Sternen zu reisen, die er des Nachts am Himmel sah. Vielleicht mit einem Erkunder des Enduriums, mit einem Relativitätsschiff, das beinahe mit Lichtgeschwindigkeit in unbekannte Regionen des Alls vorstieß und am ausgewählten Ziel einen Konnektor installierte, nicht nur durch räumliche Distanz vom Endurium getrennt, sondern auch durch eine Kluft der Zeit. Er träumte davon, mit einer langen, weiten Reise zu beginnen, erst als Vivus und später vielleicht als Mortus, damit er noch viel länger reisen konnte, über Jahrhunderte hinweg. Er träumte davon, das Universum zu sehen, und als erste Mikromaschinen Synästhesie ermöglichten, stellte er sich auch vor, wie der Kosmos schmeckte und roch, wie das Fremde, das bei den zahllosen Sternen auf Entdeckung wartete, alle seine Sinne stimulierte.
Es waren die Träume eines Jungen, und später, als die Karma-Prägung im Mnemonischen Institut zu Ende ging, holte ihn die Wirklichkeit ein. Gefahr drohte, seit Jahrhunderten. Zwei Inkursionen der Ayunn waren zurückgeschlagen, aber eine dritte stand bevor, es war nur eine Frage der Zeit, hieß es. Das Endurium brauchte nicht nur Schwerter, sondern auch mächtige Worte, wie es Pion M Paulus erklärt hatte, und so wurde Xavius zu jemandem, der mit Worten das Eisen von Entschlossenheit und
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