Der letzte Regent: Roman (German Edition)
Barrieren zu durchbrechen, die Rebecca in seinem Bewusstsein geschaffen hatte. Es beunruhigte ihn umso mehr, je länger er darüber nachdachte. Es hätte eine einfache Sache sein sollen, für eine Telepathin wie Rebecca: die Herbeiführung eines Dämmerzustands, Inaktivität anstelle von aktivem Handeln. Aber der Mann hatte die telepathischen Fesseln einfach abgeworfen und war in den Tod gelaufen.
Was Rebecca mit ihm, Xavius, getan hatte – und was sie noch mit ihm tun musste –, war weitaus komplizierter: eine ganz neue Person, die sich den Kopf nicht mit einer, sondern mit mindestens zwei anderen Personen teilen musste, den Chronass nicht mitgezählt. Und diese neue Person, der ASE-Agent namens Jerull Urik, sollte nicht still in irgendeiner Ecke sitzen, sondern handeln. Seine Aufgabe bestand aus nichts Geringerem als der Entlarvung des Regentenmörders und der Aufdeckung des Staatsstreichs im Endurium.
Was würde bei ihm genügen, um ihn dem Wahnsinn preiszugeben? Vielleicht steckte der Keim bereits in ihm, in Form eines nagenden Zweifels an allem und jedem. Für einen Moment wurde der Wunsch, sich in einen gelben Vogel zu verwandeln und allem zu entfliehen, fast übermächtig.
Rebecca warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, der jedoch ein Trick sein konnte. »Ich werde in Ihnen alles an den rechten Platz rücken, Chronist«, versprach sie.
Der Korridor wurde so steil, dass Xavius schwerer atmete. Er wandte sich an Laurania. »Die Ayunn«, sagte er. »Wo sind sie?«
»Es gibt hier keine«, antwortete die Frau mit dem feuerroten Haar und dem veränderten Gesicht. »Der Changer ist leer. Bis auf seine Seele.«
Was sie damit meinte, sah er eine Minute später, als der Korridor in einen runden Raum führte, beziehungsweise in eine Art Schacht, der ungefähr zehn Meter durchmaß und feste Wände hatte, darin Mulden mit Schriftzeichen und Symbolen. Einige von ihnen bestanden aus Kompositkomponenten und veränderten sich in Abständen von jeweils einigen Sekunden. Instinktiv schickte Xavius eine Anweisung an die Schwarmokulare in seinen Augen – sie sollten Aufnahmen anfertigen, damit kein Zeichen verlorenging. Aber die Mikromaschinen in den Augen reagierten natürlich nicht, und der Chronass, von ihm erschossen, blieb still.
Dann weckte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
Eine Säule ragte in dem Schacht auf, ölig glatt wie die Außenhülle des Changers, in ihr drei Gestalten, deren Umrisse sich deutlicher abzeichneten, als die Substanz, aus der die Säule bestand, transparent wurde. Warmes gelbes Licht kam aus ihrem Innern, ausgehend offenbar von einer viskosen Masse, in der silberne Blasen aufstiegen. Ein dumpfes Brummen erklang nun, durchsetzt von leisen Dissonanzen, wenn die Blasen eine der drei Gestalten berührten.
Es waren Ayunn, und einer von ihnen schien schwer verletzt zu sein.
Die oberen beiden Gestalten hatten ihre vier Arme verknotet. Der Knorpelhals war nach vorn gekrümmt, der Kopf gesenkt – es sah fast wie eine Verbeugung aus. Diese beiden Ayunn trugen keine Sensorbrillen wie die wenigen toten Piloten und Soldaten, die Xavius während seiner Zeit bei General Izzad gesehen hatte, und der lebende Ayunn im Wrack des Schiffes auf Magrew. Doch hier hielten metallene Spangen die Augen geschlossen. Beim dritten Ayunn war die Sensorbrille zertrümmert, offenbar von einem Schlag, der Splitter in den Kopf getrieben hatte. Dunkelblaues Blut klebte dort auf der lehmfarbenen Haut. Die beiden dünneren Arme waren gebrochen, einer der beiden längeren halb verbrannt. Von der Kleidung waren nur noch verkohlte Fetzen übrig.
»Das ist sie, die Seele des Changers«, sagte Laurania. »Drei verdienstvolle Repräsentanten der Aggregation Castoe, einer von ihnen ein Krieger.«
»Sind sie tot?«, fragte Xavius.
»Sie sind lebendiger als die Morti des Enduriums«, antwortete Laurania. »Aber nicht so lebendig wie wir. Sie existieren, solange das Schiff existiert. Sie könnten ewig leben, die Körper gefangen, die Gedanken frei, ihre Träume groß wie das Universum. Durch sie ist das Schiff mit den Aggregationen verbunden, und mit den Fokusräumen, in denen die Ayunn ihre Materiebrunnen installiert haben.«
Xavius streckte die Hand aus. »Ich glaube, der Ayunn ganz oben hat sich gerade bewegt.«
Ein Quieken ertönte, in einer Lücke zwischen dem Brummen. »Ich habe geschlafen, jetzt bin ich wach. Und es erwacht auch das Kollektivkonzept des Schiffes. Es will zu den anderen, schnell, ganz schnell, ich kann es
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