Der letzte Regent: Roman (German Edition)
trocken.
»Ich habe Durst«, sagte er. »Ich muss etwas trinken.«
»Jetzt nicht mehr.« Die Promotoria winkte, und die Hände der beiden Assistenten zogen sich zurück. Es summte, und eine Konsole stieg aus dem Boden empor. Xavius wollte den Kopf zur Seite drehen und einen Blick darauf werfen, aber er konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen. Er fühlte seinen Körper, jeden einzelnen zuckenden Muskel, doch die Befehle, die ihm das Gehirn schickte, schienen ihren Bestimmungsort nicht mehr zu erreichen.
»Ich bin gelähmt«, sagte er. Wenigstens konnte er noch sprechen.
»Entspannen Sie sich, Regent.« Selena Seaces Finger tanzten durch virtuelle Kontrollen. »Es ist leichter, wenn Sie sich entspannen.«
Alles schrie in Xavius. Sein Körper schrie, jede einzelne Zelle, und sein Geist schrie ebenfalls, aber es blieb alles still.
»Und schließen Sie die Augen«, fügte die Promotoria hinzu. »Es ist leichter, wenn Sie die Augen geschlossen haben.«
»Ich möchte sehen, was passiert.«
»Schließen Sie die Augen.«
Er ließ sie offen und beobachtete, am Rand seines Blickfelds, im letzten kleinen Augenwinkel, wie die Hände der Assistenten zurückkehrten. Sie hielten etwas, einen Behälter, und darin bewegte sich etwas, undeutlich, hinter grauweißen Schlieren verborgen. Etwas schob sich hinein, ein Greifer, kam dann wieder heraus und verschwand aus Xavius’ Sichtfeld. Kurz darauf fühlte er eine Berührung, an den Ohren, dann auch an der Nase, etwas kroch durch Gehörgänge und Stirnhöhlen .
Selena Seace hielt ihm ein schwammähnliches Objekt mit Poren vors Gesicht. Rauch kam aus den kleinen Öffnungen.
»Atmen Sie tief ein, Regent.«
»Was geschieht jetzt?«, fragte er undeutlich, während Körper und Geist noch immer schrien, hörbar nur für ihn. Er musste atmen, er konnte nicht anders, seine Lungen verlangten nach Luft, und der Rauch – grauweiß wie der Inhalt des Behälters – fand einen Weg durch Mund und Nase.
»Jetzt sterben Sie«, sagte Selena Seace.
Xavius öffnete noch einmal den Mund, und dann starb er.
55
Es gab kein Licht am Ende eines langen Tunnels. Es gab kein warmes Leuchten, das ihm, der verwirrten Seele, den Weg wies. Es gab auch keine Sphärenklänge, die himmlischen Frieden in Aussicht stellten.
Dafür gab es jede Menge Schmerz.
Es war ein kalter, lähmender Schmerz, als wären seine Gliedmaßen halb in Eis erstarrt, bevor die Kälte Taubheit brachte. Es war ein Schmerz wie von tausend Messern, die langsam die Haut aufritzten und dann immer tiefer schnitten, während jemand Säure in die Wunde tröpfeln ließ. Es war ein Schmerz, der immer stärker wurde und sich verdoppelte, als Xavius glaubte, dass es nicht noch schlimmer werden konnte.
Dies war der Tod: Pein, Agonie, Auflösung, der innige, von Verzweiflung getriebene Wunsch, den Körper und seine Qualen zu verlassen, dem kalten Brennen zu entkommen, das seine Muskeln zerriss, den Krallen und Klauen, die Milz und Leber zerfetzten, sich in die Lungenflügel bohrten, über das wild schlagende Herz kratzten, in den Gedärmen gruben und nach der Seele suchten. Doch die Seele floh, sie glitt fort, umso schneller, je größer der Schmerz wurde, und schließlich sprang sie, doch mitten im Sprung, der ihr Freiheit bringen sollte, hielt sie etwas fest.
Dies war der Moment, der genau auf der Schwelle lag: auf der einen Seite das Leben, warm und hell, auf der anderen der Tod, nicht kalt und dunkel, denn man brauchte Augen, um die Dunkelheit zu sehen, und einen Körper, um die Kälte zu fühlen. Die andere Seite war … unbestimmt, wie ein farbloser Nebel voller Möglichkeiten und Potenzial, ein weißer Fleck auf den Landkarten der Existenz. Oder wie ein Loch, von dem man erst erfuhr, wie es aussah, wenn man hineinfiel. An diesem Ort, klein und schmal, verharrte die Seele im Sprung, weil etwas sie festhielt. Der Schmerz war noch immer da, aber an die Peripherie gerückt, wie ein Schatten, dem man nicht ganz entkommen konnte.
Zunächst herrschte Stille an diesem Ort, oder vielleicht war es die Abwesenheit von Zeit, die alles still bleiben ließ. Aber dann kam ein Donnern aus der Ferne, und Xavius wusste, dass es nach ihm suchte. Der Orkan aus Stimmen zog heran, der Sturm, dem er bei der ersten Begegnung nicht standgehalten hatte, und er begriff, dass er sich ihm öffnen musste. Es war seine einzige Chance, im Tod am Leben zu bleiben. Er musste die Stimmen in sich aufnehmen und jeder einzelnen von ihnen zuhören, auch wenn es
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