Der letzte Schattenschnitzer
Schatten. Und was nutzten die Flammen der Engel und die Macht magischer Artefakte, wenn die Schatten das Herz zu vergiften begannen?
Er gab sich seinen Zweifeln hin, bis der Alte seinen Schatten tief im Inneren Russlands, irgendwo hinter Kiew, ins Innere eines Hauses führte. Sofort spürte er die Gegenwart von Schatten und vage auch die von etwas Großem, Wundervollem. Doch bevor er länger darüber nachdenken konnte, nahm er noch etwas wahr, oder vielmehr, die Abwesenheit von etwas: Menschen . Dieses Gebäude, selbst die Stadt, in der es stand, schien vollkommen menschenleer.
An der Seite des Alten floss er durch verwinkelte Zimmer, eine nackte Betontreppe empor und durch zerborstene Türen. Das Wundervolle, dessen Gegenwart er zu ahnen glaubte, besaß – das spürte er jetzt – dieselbe Qualität wie schon der kunstvoll geschnitzte Schatten der Nyx im Park der Monster …
Jonas löste sich aus dem Schatten des Alten, fiel hinter ihm zurück und manifestierte sich schließlich in einem schmucklosen, heruntergekommenen Flur, auf dessen Wänden dunkle Schimmelflecken blühten, während der Putz in großen Stücken abblätterte. Trotz des schäbigen Zustands war jetzt deutlich der Geist der Schattenschnitzer zu spüren. Denn hier standen sie versammelt, jene dunklen Skulpturen, die der Italiener einst aus der Nacht geschnitten und die der Rat angeblich vernichtet hatte. Jonas erkannte wilde Faunen, ein kleineres Abbild der Nyx und selbst den mächtigen Zeus, der einen Blitz aus Schatten über sein Haupt erhob. Er strecke die Hand nach der Figur aus, ließ zaghaft sein Dunkel in das des Göttervaters fließen und spürte eine Ahnung der Inspiration, die einst durch die Hände seines Schöpfers geflossen war.
Und dann wisperte die Stimme des Alten in seinem Schatten:
»Wie hätte ich sie ins Dunkel zurückschmettern sollen? Was wäre es anderes, als die Schöpfung Gottes mit Füßen zu treten, hätte ich diese Kunstwerke zerschlagen und wieder in gleichgültige Schwärze verwandelt?«
Der Gestalt gewordene Schemen Jonas Mandelbrodts trat durch eine rissige Tür in den nächsten Raum, wo er sich einem mannshohen Kreuz aus Schatten gegenübersah, an dem in vollendetem Schwarz die Gestalt des Heilands hing.
»Sie waren nicht gottlos: Ripley, der Italiener und die anderen Schattenschnitzer. Doch sie hatten versäumt, die Verantwortung zu erkennen, die ihre Kunst mit sich brachte. Statt sie zu beherrschen, spielten sie mit den Schatten …«
Zu Füßen des Heilands erkannte Jonas auch den Rest der Kreuzigungsgruppe: Maria und Johannes, die vor ihm knieten. Vollendete, lebensechte Figuren aus reinem Schatten, substanzlos, doch zugleich von berückend realer Schönheit, magische Trugbilder einer längst vergessenen Kunst.
Staunend schritt Jonas Mandelbrodt auch an diesen Skulpturen vorbei und trat in das nächste Zimmer, in dessen Mitte das aus Schatten geschlagene Abbild eines traditionellen chinesischen Drachen stand, während an maroden Wänden ein halbes Dutzend Masken hingen, die der japanischen Tradition des Nō-Theaters zu entstammen schienen. Doch sie waren komplett aus Schatten gemacht, hauchdünn, beinahe durchscheinend, einem Trauerschleier ähnlich.
»Sie liebten die Schatten, wollten ihnen ihr eigenes Leben gönnen und erachteten sie als eigenständigen Teil der Schöpfung. Doch sie ließen es an Strenge mangeln und vergaßen die Gefahren, die in den Schatten ruhten. Und darum mussten wir ihnen Einhalt gebieten …«
Jonas horchte auf.
»Das war der Moment, in dem der Rat sich mit der Kirche verbündete, um die Knechtschaft der Schatten endgültig zu besiegeln …«, sagte er und stockte. Die Knechtschaft der Schatten . Diese Formulierung hatte er so noch nie zuvor gebraucht. Woher kam sie wohl in diesem Moment?
»Ich sehe, mein Junge, dein Schatten hat dich selbst die Worte gelehrt, die wir zu vergessen trachteten. Denn dass Ripley und die Seinen die Knechtschaft der Schatten abschaffen wollten, war der Grund, weshalb wir uns gegen sie stellten.«
Jonas war hin und her gerissen zwischen der Pracht der Skulpturen und den kühlen klaren Worten des Alten. All das verwirrte ihn. Es war ein sonderbares Gefühl, hier, im Haus desjenigen zu weilen, der ihn des Gleichgewichtes wegen hatte tot sehen wollen, und aus dem Schatten ebenjenes Mannes heraus Zweifel am Wirken des Rates zu vernehmen, dem das Dunkel sich seit Jahrhunderten beugte. Dann waren da noch diese Skulpturen, diese Wunder aus fein
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