Der letzte Schattenschnitzer
Schemenschwert entglitt seiner schwarzen Hand, und aus dem Mund seines fleischgewordenen Schemens drang ein Schrei, wie ihn das Dunkel noch nicht vernommen hatte. Beinahe mühelos schob der Fremde den dunklen Fuß des Jungen beiseite, stemmte sich vom Boden hoch und trat an das Pult.
Jonas schluchzte laut, ungläubig, gelähmt vor Schreck und Staunen. Apathisch zog er die Hadeskappe ab. In diesem Moment nutzten ihm weder die Macht der Seraphim noch die Alexanders. Er gab auf, ließ los. Die Artefakte begannen zu verschwimmen. Während ihm die Kappe vom Schattenhaupt floss, entglitt das Flammenschattenschwert seiner Hand und der Panzer löste sich langsam auf. Sie verloren sich im Dunkel des Dachbodens und vermischten sich mit den gewöhnlichen Schatten, in denen sie unwiederbringlich aufgingen.
Nackt und schwarz stand der Schemen Jonas Mandelbrodts dort, noch immer wie gelähmt vor Staunen und Schauder. Ohne ihn zu beachten, legte der Fremde seine Hand auf das Buch und ließ die Buchstaben unter seiner Berührung zu kalter Schwärze gefrieren. Dann schloss er seine finstere Faust um die Seiten, und das uralte Wissen der Schattenschnitzer zerbrach in schwarz schillernde Splitter.
Das vierte Siegel war gebrochen. Auf demselben Weg, wie er gekommen war, verschwand der Schemen des Fremden, und als der Himmel über dem Kloster Montserrat gleich darauf aufklarte, war die Welt der vollkommenen Finsternis näher als je zuvor.
Mit schwarzen Tränen der Verzweiflung auf seinen dunklen Wangen hockte der Schatten Jonas Mandelbrodts im Zwielicht zwischen den Scherben des Golems.
Bis ein anderer Schatten in den seinen drängte. Jonas brauchte nicht lange, zu begreifen, wer es war. Zwei Mal schon hatte er ihn gespürt. Auf dem Dach der Welt und im Park der Monster.
Jonas ließ den Schatten des Ältesten in sich ein. Er wusste nicht mehr, was Gut und was Böse war. In den Schatten schien beides sich zu vermischen, zu verändern und in steter Bewegung zu sein. Nie hatte er das so schmerzhaft gespürt wie jetzt, da er im Dunkel dessen, der das Siegel gebrochen hatte, den Schatten von Erzsebet Stiny und Carmen Maria Dolores gespürt hatte …
John Dee
ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
Kapitel XXV
(Seite 283)
VON DIESEM BUCHE
D ieses Buch ward verfasst, um Zeugnis zu geben von der Geschichte der Schatten und jenen, die in der Lage sind, sie zu beherrschen. Meine Worte sollen von einer Zeit künden, als die Magie noch Teil der Schöpfung und mehr als bloß Diener der Selbstsucht Einzelner war. Als das Dunkel noch das Mal der Schattenschnitzer trug.
Auf diesen Seiten ruht das Wissen, das geblieben ist. Hierin banne ich für dich, werter Leser, die Worte derer, die auf den Scheiterhaufen des Gleichgewichts geopfert wurden. Dieses Buch ist verfasst im Geiste der alten Schule, welche die Schöpfung mehr ehrte, denn dass sie sich diese untertan machen wollte. Es sind die Worte Ripleys, des letzten Schattenschnitzer, der sich aufbäumte gegen die neue Zeit und ihre Diener. Und ich, der ich diese Zeilen verfasse, tue dies in Ehrfurcht und kraft meines eigenen Schattens. Mit seinem Dunkel forme ich diese Worte, einen Satz nach dem anderen, und fülle mit ihm diese Seiten. Wenn es endet, werde ich keinen Schatten mehr mein eigen nennen, und jeder wird sehen, dass ich ihn hergab für etwas, das größer ist als das, wonach der Rat der Schatten strebt. Mein Schatten aber wird fortbestehen in diesem Buch und jedem, der zu wissen wagt, den Weg in die Schatten weisen.
14.
Und wert ist, was entsteht auf Erden,
nicht für ernst beseh’n zu werden.
Giordano Bruno
(1548-1600)
In Lob der Schatten
S einer Waffen und seines Schutzes beraubt, floss Jonas Mandelbrodt im Schatten des Ältesten durch die Welt. Der Oberste des Rates hatte ihm erklärt, dass er nichts zu befürchten hatte und Ambrì nicht fallen würde, bevor er nicht in die Zuflucht zurückgekehrt war. Der Junge hatte ihm geglaubt, sich auf ihn eingelassen und war in seinem Dunkel versunken. Gemeinsam suchten sie nun ihren Weg durch die Welt, von einem Schatten zum nächsten, angetrieben vom Willen des Alten.
Noch immer war Jonas wie betäubt von dem, was er im Schatten des Siegelzerstörers gespürt hatte. Denn obwohl er in seinem Inneren sowohl die Stiny als auch Maria wahrgenommen hatte, hatte es sich doch nicht angefühlt, als ob der fremde Schatten sie verschlungen hatte. Wie aber hätte das möglich sein sollen? Ungewissheit und Misstrauen rumorten in seinem
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