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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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Bourges:
    »Halt. Ich mag dich nicht sehen, aber ich weiß wohl, dass du hier bist. Denn ich bin schon so lange hier, dass ich jeden Schatten hier kenne. Ganz gleich, ob er sichtbar ist oder nicht. Und du gehörst nicht hierher.«
    Jonas staunte über die Schattensinne des Henkers.
    »Also sprich! Bist du gekommen, um das Siegel zu brechen?«
    Da wagte der Junge es, sich zu erkennen zu geben:
    »Nein. Ich bin nicht mehr als eine Anomalie, die du schon einmal aus dem Weg räumen wolltest.«
    Der Golem lachte leise auf.
    »Oh ja, ich entsinne mich. Du bist der Schattenschüler. Weshalb aber bist du hier?«
    »Ich bin gekommen, um dir zur Seite zu stehen.«
    »Ein Knabe, der einem alten Klumpen Ton beistehen will? Wahrlich, dies sind seltsame Zeiten …«
    Das Lachen aus dem tönernen Maul wurde lauter. Jonas aber ließ sich davon nicht irritieren.
    »Der Wächter hat mich für diese Aufgabe gewappnet.«
    Kaum, dass er diese Worte ausgesprochen hatte, spürte er das Staunen des Golems, der unsicher einige wuchtige Schritte in seine Richtung unternahm.
    »Oh Junge, er hat dir mehr Macht verliehen, als du ahnst! Wie lange habe ich gehofft, die Wunder berühren zu dürfen, die in der Zuflucht ruhten. Ich ahnte ja nicht, dass ich ihnen einmal so nahe sein würde …«
    Jonas ahnte, dass er von seinem Gegenüber nichts zu befürchten hatte. Er nahm die Kappe ab, um dem Henker einen Blick auf die ersehnten Wunder zu gewähren. Zunächst aber staunte sein Gegenüber, als er sich nun dem Schatten eines ausgewachsenen Mannes gegenübersah. Kräftig und hochgewachsen. De Bourges hatte den Schatten des Jungen erwartet, dessen Seele er einst beinahe aus seinem Leib gerissen hatte. Doch Jonas hatte als Schattenform die eines Mannes gewählt; sie kam seinem inneren Selbst weit näher als die des Knaben.
    »Wahrlich, ein Kind bist du schon lange nicht mehr, und ich könnte schwören …«
    Ohne den Satz zu vollenden, verließ le Bourges den Körper des Golems, umfuhr den Jungen und widmete seine Aufmerksamkeit den Schätzen des Wächters. Staunend wisperte er aus dem Schatten heraus:
    »Was hätte ich mit diesen Werkzeugen alles vollbringen können? Nie, nie wäre ich gestorben, hätte ich auch nur eines davon besessen. Es ist so jämmerlich. Gefangen auf einem Dachboden in einem Klumpen Lehm und um mich herum nichts als Mönche.«
    Jonas spürte die Bitterkeit im Schatten seines Gegenübers, und er verstand sie nur zu gut.
    Das Seufzen des Henkers durchdrang das Dunkel. »Aber sag, Junge, willst du wissen, was es ist, dass ich hier oben beschütze?«
    »Du sprichst vom Siegel?«
    »Oh, es ist nicht bloß ein Siegel. In diesem Buch verbirgt sich das gesammelte Wissen derer, die vor uns existierten. Bücher gibt es viele, mein Junge, die Alchimia Umbrarum aber ist mehr als bloß ein Buch …«
    Zögernd trat der Junge an das Pult, während de Bourges wisperte:
    »Berühre sie. Schlag sie auf …«
    Ehrfürchtig ließ Jonas seine Schattensinne über den abgestoßenen Einband gleiten. Schweres, rotbraunes Leder, das die Geschichte von Jahrhunderten geatmet hatte. Vorsichtig streckte er den Schemen seiner Hand aus, schlug die Alchimia auf und spürte ehrfürchtig die kleinen Lettern aus flirrender Finsternis, die auf den Seiten schimmerten. Und er begriff:
    »Unglaublich, sie ist …«
    »Ja. Sie ist mit Schatten geschrieben. Beinahe seinen ganzen Schatten ließ John Dee in dieses Buch fließen. Er hat ihn dem Wissen der Schattenschnitzer geopfert. Damit es nicht verloren geht. Zwischen diesen Seiten ruht ein Wissen, das Schatten allein nicht weitergeben können. Die Alchimia Umbrarum , mein Junge, ist nicht weniger als ein Wunder. Und in ebendiesem ruht das vierte Siegel.«
     
    Als die Stimme de Bourges aus dem Dunkel jenes Dachbodens erklang, hatte ich mich längst mit den Worten des Buches vermischt. Ich floss durch die Seiten, nahm ihr Wissen, ihre Weisheit in mich auf. Dabei war es beinahe, als ob ich nichts Neues lernte, sondern mich lediglich erinnerte. Als hätte ich dieses Wissen, das einst Kapitel um Kapitel vor Menschen und Schatten verborgen worden war, längst in mir getragen. Und in diesem Augenblick kehrte es mit einem Schlag in mich zurück!
     
    Der fleischgewordene Schatten Jonas Mandelbrodts fuhr über die Buchstaben, tastete nach ihnen, verband sich mit ihnen und schien sich mit ihnen auszutauschen. In diesem Augenblick fühlte der Junge anstelle der Erinnerung die Magie selbst, und sie ließ ihn erzittern …
    Dem

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