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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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Schöpfung, ja Gott selbst herausfordern wollen …
    Und allein der Rat war in der Lage gewesen, ihn aufzuhalten. Während der Alte durch die Welt floss, durchströmten ihn die Erinnerungen. Wie sie Ripley am Ende seines Lebens, auf seinem Sterbebett gestellt hatten. Selbst dazu waren sie erst in der Lage gewesen, als die Kräfte des Schattenschnitzers schwanden und er sich nicht länger vor ihnen hatte verbergen können.
    Anschließend hatten sie ihn verhört. Hatten seinen Schatten ebenso wie seinen Körper gefoltert. Doch der Abtrünnige hatte das Eidolon längst so gut verborgen. Nicht einmal er selbst wusste noch, wo es sich befand, denn er hatte es einem venezianischen Tischler übersandt mit dem Auftrag, es im Bein eines beliebigen Tisches zu verbergen. So viel hatten sie aus seinem sterbenden Körper herauszerren können. Mehr aber war nicht geblieben. Kraft seiner Magie hatte Ripley seinen eigenen Geist zerstört.
    Sie hatten ihm den Rest seines kümmerlichen Gedächtnisses genommen. Und seinen Schatten. Damit er sich niemals wieder mit den anderen mischen und sein Wissen mit ihnen teilen konnte. Dann hatten sie Ripleys verkrüppelten Schatten in seinem eigenen Alchemistenkeller eingemauert und während der letzten fünfhundert Jahre dafür gesorgt, dass darüber ein Haus nach dem anderen gebaut wurde. Unter den wachsamen Augen des Rates hatten zwei Weltkriege den Keller in der Tiefe verschwinden lassen, so dass Ripleys Alchemistenstube und das Grab seines Schattens heute unter Tonnen von Geröll, Beton und Schutt begraben lagen.
    Der Alte beendete seinen wilden Ritt durch das Zwielicht im Schatten einer Sainsbury’s-Filiale im Herzen Londons. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal war in dem Gebäude noch ein Bestatter und kein Supermarkt gewesen. Die heutige Welt war unstet geworden, sie besaß keine Beständigkeit mehr, und auch das Dasein der Menschen war flüchtiger geworden. Beinahe als ob sie selbst nach und nach verblassten …
    Durch die Mauerfugen wand sich der Alte in das Fundament, dann tiefer in den Boden, durch das Dunkel des Erdreichs. Verwesung schlug ihm entgegen, er passierte Trümmer und eine deutsche Fliegerbombe, die irgendwann in den letzten Tagen der Luftschlacht um England versäumt hatte, zu explodieren. Mit jedem Zentimeter, den er sich dem Kerker des Schattens näherte, wuchs sein Unwohlsein. Tiefer drang er und tiefer, bis er die Überreste jener Mauern fand, in denen einst der vielleicht größte Alchemist des Universums das Unschaffbare vollbracht hatte.
    Er durchfloss den groben Mörtel, wand sich im Dunkel von Backstein zu Backstein und ergoss sich schließlich ins Innere des vergessenen Gewölbes. Und schon als er sich auf dem grob gehauenen Felsen ausbreitete, berührte er einige gesprengte Glieder der Ketten, die einst den Sarkophag umschlossen hatten. Darin, begraben unter Bannsprüchen und Fluchzaubern, die einem Pharao zur Ehre gereicht hätten, hatte Ripleys Schatten bis ans Ende der Ewigkeit liegen sollen, so wie es der Rat verfügt hatte.
    Doch die bösen Vorahnungen des Alten bestätigten sich. Er schmeckte die Spuren der Macht eines fremden Schattens.
    Eigentümlich war allerdings, dass diese Spuren der Befreiung nicht frisch waren. Wer auch immer Ripleys Schatten den Weg aus dem Dunkel gebahnt hatte, hatte dies bereits vor über vierzig Jahren getan …
    Jeder einzelne Bann, jeder Fluch war zerstört worden. Und das bedeutete, dass die Macht des Schattens, der dies vollbracht hatte, immens sein musste! Womöglich war es doch einer von ihnen, ein Ratsmitglied und Großmeister … Ein Verräter aus ihren eigenen Reihen? Er dachte an die einzelnen Mitglieder des Rates. Er allein als Oberster des Rates kannte ihre Gesichter, ihre Namen, wusste um ihre Identität. Da war der scharfzüngige Boris de Maester, der einst Vorsteher der persönlichen Leibgarde Sixtus IV. gewesen war. Dann gab es den zynischen Schattenspieler Skugga, dem nichts heilig war und der dem Wahnsinn näher war als jeder andere von ihnen. Erzsebet Stiny war die einzige Frau in ihrer Mitte. Sie war erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf Empfehlung der Okkultistin Madame Blavatskys Mitglied des Schattenrates geworden war. Und zuletzt war da noch der schweigsame Rest von Robert la Bourge. Neben dem Alten weilte er am längsten in ihren dunklen Reihen; seit Jahrhunderten stellte er den Henker des Rates dar.
    Es war seltsam. Während all ihre Schatten sich wieder und wieder mischten, kannte

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