Der letzte Schattenschnitzer
einen Vorwand warteten, Don Inigo das Mädchen wegzunehmen. Vor allem, seit seine Frau vor anderthalb Jahren, als sie spät Abends im Tablettenrausch irgendwo auf einem der Parkplätze döste, von einem Pilgerbus überfahren worden war.
Sie hatte damals noch ein paar Stunden gelebt, war dann schließlich aber doch gestorben, und Don Inigo hatte sich – damit ihm so etwas nicht noch einmal passierte – an ihrer statt drei andere Frauen genommen. Geheiratet hatte er jedoch keine einzige von ihnen. Von seinen neuen Frauen, die zunächst Benita, Rosa und Aldonza hießen, wurde keine überfahren, doch wechselten sie bald in so regelmäßigen Abständen, dass Mama Cervantes beschloss, sich ihre Namen nicht länger zu merken …
Erwähnte öffentliche Stellen jedenfalls, die ebenso das Wohl des Kindes wie auch den damit verbundenen Andrang wunderwilliger Pilger im Auge hatten, hatten derweil längst ein Auge auf die kleine Carmen Maria Dolores geworfen. Und so war es mitunter einzig noch Mama Cervantes, die zwischen dem Mädchen und dem Kinderheim stand, in dem man bereits einen kleineren Thronsaal für sie plante – ohne die Blüten.
Ebenso sehr wie das greise Kindermädchen den Blick ihres Schützlings für alles Jenseitige schärfte, so schützte es das Kind auch vor den Übeln des Diesseits. Maria ging es besser als den meisten Kindern ihres Alters in der Gegend. Alles, was dem Mädchen fehlte, war heute wie auch schon vier Jahre zuvor sein Schatten.
Doch weil es dem Kind gutging und die Hacienda Hidalgo der Gegend mehr Umsatz bescherte als das regelmäßig ebenfalls in der Region stattfindende Lucha Libre Festival, ließ man Don Inigo gewähren. Denn selbst die zahllosen fanatischen Wrestlingfreunde des Landes waren nichts im Vergleich zu den wunderwütigen Pilgern, die Woche für Woche in den weißgetünchten Thronsaal strömten. Zumal Letztere im Gegensatz zu den Fans der Luchadores darauf verzichteten, die Stadt am Ende ihrer Pilgerfahrt in Schutt und Asche zu legen. Sie kamen, schauten ihr Wunder, beteten, warfen ihre Geld in die Kollekte und verschwanden wieder. Aus diesem Grund, weil den Weg zur Hacienda inzwischen ein knappes Dutzend florierender Tacobuden und beinahe ebenso viele Souvenierstände zierten und Marias Vater pünktlich seine Steuern zahlte, hatte der Bürgermeister ihn kürzlich zum Ehrenbürger Mexico Citys ernannt.
Allerdings ohne zu wissen, dass Don Inigo in den vergangenen Jahren gierig und während der letzten Monate zu einer zentralen Figur des regionalen Drogenschmuggels geworden war. Inzwischen ging gut ein Viertel des für Nordamerika bestimmten Kokains über seinen Tisch. Zugunsten seiner Geschäfte hatte er die Hacienda im Nachhinein unterkellern lassen, so dass das Gelände von unzähligen geheimen Gänge durchzogen war, die bis in die Stadt hinunterführten. Außerdem hatte der Hausherr Stacheldraht über die Mauern ziehen und einige Türme errichten lassen, die rund um die Uhr mit bewaffneten Posten besetzt waren. Nach außen hin war das Gelände gerade so weit gesichert, dass man annehmen konnte, es ginge ihm allein um den Schutz seiner Tochter. In den Katakomben der Hacienda aber, wo Don Inigos Männer Drogen abpackten, um sie in Plüschtieren und Bohnendosen zu verstecken, lagerten genügend Waffen, um eine ganze Divison der mexikanischen Armee gute dreizehn Tage auf Abstand zu halten und die Hacienda Hidalgo in ein zweites Alamo zu verwandeln …
Beinahe unbemerkt war Don Inigo Hidalgo inmitten des Pilgerstroms zu einem der größten Gangster Mexikos geworden. Und so betete der Vater der kleinen Carmen Maria Dolores ebenso wie deren Kindermädchen zur Santisima Muerte.
Einige seiner Gebete waren erhört worden, als die Hacienda im Spätsommer Besuch vom Betreiber des Fernsehsenders Canal Trece bekam, der mit ihm über eine Liveübertragung aus dem Thronsaal seiner Tochter verhandeln wollte. Eingedenk seines spirituellen Schwerpunktes befasste sich Canal Trece überwiegend mit Heiligenerscheinungen, Marienbildern und allerlei Wundern, deren Großteil ein vernunftbegabter Zuschauer bereits auf den ersten Blick als Schwindel ausmachen konnte. Vernunftbegabte Zuschauer waren allerdings auch keineswegs die zentrale Zielgruppe des Senders. Wo immer sich innerhalb der Grenzen Mexikos etwas ereignete, in dem sich die vage Handschrift Gottes oder der Mutter Maria erkennen ließ, in Kirchen, Hinterhöfen Bahnhofstoiletten oder Bohnenfeldern, war Canal Trece mitsamt Kamera vor Ort.
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