Der letzte Schattenschnitzer
auf. Er hielt einen Moment inne und lauschte darauf, wie Ruiz’ Schritte sich auf der Treppe langsam entfernten.
In einem der angrenzenden Korridore schnappte mit leisem Klicken das Feuerzeug einer Wache auf, als diese sich eine Zigarette anzündete.
Reflexartig fuhr die behandschuhte Linke des Eindringlings hinab zum Griff einer eigentümlichen Waffe, die in seinem Gürtel steckte. Dieses Mal war es nicht der Colt Python, sondern ein Dolch. Ein alter Dolch, von dessen Art es in der Welt bloß noch drei gab. Er war älter als dieses Gebäude, beinahe so alt wie die Stadt, und hätte eher in ein Museum als irgendwo sonst hingehört. Es handelte sich um einen Separador , den Schattenspalter, ein rituelles Opfermesser, dessen Schärfe so außerordentlich war, dass einst die aztekischen Hohepriester in den Tagen Acamapichtlis, des ersten großen Sprechers, damit ihren Opfern die Schatten vom Leib zu trennen vermochten. Einer dieser Dolche befand sich im mexikanischen Nationalmuseum für Anthropologie, der zweite im Besitz eines englischen Sammlers, und auf dem letzten ruhte in ebendiesem Moment die Hand eines falschen Pilgers auf der Hacienda Hidalgo. Als er kurz darauf hören konnte, wie auch die rauchende Wache im angrenzenden Korridor sich von ihm fortbewegte, ließ er den Dolch wieder sinken, um sich stattdessen beinahe lautlos auf die halboffene Tür des Thronsaales zuzubewegen.
Bevor der Eindringling sie jedoch ganz öffnen konnte, vernahm er aus dem Inneren eine Stimme. Doch es war nicht die des Mädchens, sondern vielmehr die einer alten Frau. Mama Cervantes, die ihrem Schützling ein Lied vorsang. Die Kreatur war also nicht allein!
Tengo una muñequita. Der Mann kannte das Lied. Es war eines, das Hexen für ihre Kindern sangen. Vor vielen Jahren, lange noch bevor er begonnen hatte, sich für die Welt hinter der Welt zu interessieren, hatte er es einmal gehört …
Und nun sang das greise Kindermädchen jenem Ungeheuer dort auf dem Thron das gleiche Lied vor, das seine Mutter einst für ihn gesungen hatte. Was für ein Hohn. Ich habe eine kleine Puppe . Gerade dieses Lied einem Geschöpf vorzusingen, das sich den Körper jenes bedauernswerten Mädchens zum Werkzeug auserkoren hatte.
Für derlei Gedanken aber war keine Zeit. Er hatte diesen Abend minutiös geplant. Und er konnte nicht zulassen, dass sich ihm jemand in den Weg stellte. Ganz gleich, wer es sein mochte. Was immer auch geschah, heute Nacht würde er das Eidolon mit sich nehmen. Er würde es dazu bringen, ihm die Geheimnisse derer zu verraten, die ihn seit Jahren schmähten! Und dann, aber erst dann würde er es seinem Meister übergeben . Jenem Fremden, der ihn seit Jahren schon, seit seinem schmählichen Versagen in Kutna Hora, mit Wissen und Büchern versorgte.
Vorsichtig betrat der Fremde den Raum und sah inmitten der zertretenen Blüten die singende Mama Cervantes, die, ihm den Rücken zugewandt, vor dem Thron kniete, auf dem das Ungeheuer mit geschlossenen Augen ruhte. Es gab vor, zu schlafen … Doch der Eindringling wusste, dass das Kind keinen Schlaf brauchte, solange das Eidolon in ihm war.
Er zog ein schmales Stück Kohle aus der Tasche, kritzelte hastig einige Schriftzeichen auf seine Handinnenfläche und sprang dann ins Innere des Raumes. Das Kindermädchen fuhr hoch, und das falsche Kind riss den Kopf empor. Seine Augen öffneten sich, und für einen kurzen Moment stand eine Ahnung des Erkennens darin. Die Kreatur begriff! Doch es war bereits zu spät. Im gleichen Augenblick hatte der Unbekannte seinen Spruch in den Raum geschleudert. Es war ein wohlbedachter Spruch, den sein Meister ihn gelehrt hatte.
Und an ihren eigenen Schatten gekettet erstarrte Mama Cervantes zu Füßen des Thrones.
Der Mann tat einen Schritt an ihr vorbei in Richtung des Kindes und streckte die Hände nach dem reglosen Körper des Mädchens aus, der dort ebenso erstarrt wie die alte Frau zu seinen Füßen und mit weit aufgerissenen Augen hockte.
Und er erkannte, da er nun in sie hineinblickte, sehr wohl, dass diese Augen jeder Menschlichkeit entbehrten.
Gerade wollte er das Kind aus dem Thron heben, als er in seinem Rücken plötzlich die Stimme der Alten vernahm:
»Wer immer du bist, du wirst ihr nichts antun!«
Er fuhr herum. Die Alte stand unter seinem Bann, ihr Schatten hielt sie in einer Umklammerung, und sie hätte sich weder regen noch die Dinge um sich herum wahrnehmen dürfen! Dass er in diesem Moment ihre Stimme hörte, war vollkommen
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