Der letzte Schattenschnitzer
Ripleys waren alles andere als beruhigend.
»Nichts von alldem. Allem Anschein nach war es niemand anders als der Wächter selbst. Weshalb er es tat, weiß wohl nur Gott allein.«
Seine Worte hallten durch die Finsternis, durchzogen ihr gemeinsames Dunkel, und im Nachhall wich die Aufregung in der Finsternis einer bedrückenden Ruhe, während einer nach dem anderen die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage begriff. Der Wächter, der letzte auf Erden verbliebene Schatten eines Engels, hatte den Schatten jenes Mannes befreit, der Gott vor über fünfhundert Jahren den Krieg erklärt hatte …
Der ehrwürdige Rat der Schatten schwieg, staunte und schauderte in der undurchdringlichen Finsternis am Ende der Welt, bis die scharfe Stimme des einen das Schweigen brach und das Staunen in gedachte Worte kleidete: »Aber warum sollte der Schatten des Engels das Abbild dessen befreien, der die Welt der Menschen ins Verderben reißen wollte?« Lang klang seine Frage ohne Antwort im Dunkel nach. Am Ende blieb der Alte ihnen die Antwort schuldig. Denn er kannte sie ebenso wenig wie die übrigen Mitglieder des Rates. Und womöglich gab es nur einen, der diese Antwort besaß: der Wächter selbst. Damals, vor Hunderten von Jahren, als sie den Alchemisten bezwangen, hatte er sich mit dem Rat überworfen und verbarg sich seit Urzeiten in seinem Refugium. In Ambrì, dem Ort im Schatten, der im Herzen des Schweizer Tessins, am Fuß der Berge, mehrere Monate des Jahres im Dunkel lag und an dem all ihre Magie nutzlos war …
»Wir sollten ihn befragen. Trotz allem«, meinte der Scharfzüngige, kaum dass er die Gedanken des Alten geschmeckt hatte.
»Er wird sich nicht mit uns mischen«, gab der Zynische zu bedenken.
»Was aber tun? Wir können nicht nichts tun, während das Ende der Welt heraufdämmert …« Die Stimme des sonst so schweigsamen Schattens klang eindringlich.
»Wenn Ripley mitsamt dem Eidolon dort draußen ist, dann hat begonnen, was wir immer verhindern wollten.« So viel war gewiss, und damit dachte der Alte in diesem Moment, was sie alle bereits wussten.
»Dann sind wir die Einzigen, die noch zwischen den Schatten und den Menschen stehen«, schlussfolgerte der Scharfzüngige, und der Schweigsame fügte hinzu: »Die Einzigen, die das Ende der Welt aufhalten können.«
Der Älteste wollte wissen, wie es um die Siegel bestellt war. Denn er wusste, dass nun alles von ihnen abhing. Für den Moment konnten die übrigen Mitglieder des Rates ihn beruhigen.
»Jeder von uns hat das seine in Augenschein genommen. Das Buch, das Grab, die Reliquie und das Standbild sind unberührt.« Die Stimme der Frau nannte an dieser Stelle nur vier der fünf Siegel, jene vier, deren Verstecke, Schattenstätten genannt, sie alle kannten. Die Bewahrung des letzten oblag dem Alten selbst. Und das Wissen um jenes letzte Siegel verbarg er sogar vor seinen Vertrauten … Und auch jetzt erwähnte er es nicht, sondern wollte mehr über den Zustand der anderen Siegel erfahren: »Ihr habt sie gesehen, umfahren, geprüft. Und wenn ich euren Worten glauben kann, dann sind sie sicher. Noch. Sorgt nach Kräften dafür, dass dem so bleibt. Ich beschwöre jeden Einzelnen von euch, sein Siegel zu bewahren. Wenn nötig mit seinem Leben. Dieser Tage mehr denn je. Denn sobald Ripley und das Eidolon erst zueinandergefunden haben, werden sie versuchen, in den Limbus einzudringen. Und dafür werden sie jedes einzelne zerstören müssen …«
Obwohl seine Stimme fest klang und seine Anweisungen klar und deutlich waren, konnte auch der Alte seine Besorgnis nicht vor den anderen verbergen. Sie alle wussten die Zeichen zu deuten, die sich im Schutz der Schatten in die Welt zu schleichen begannen. Fünfhundert Jahre nach seinem Tod stand der Alchemist kurz davor, seinen unheiligen Plan doch noch zu verwirklichen und mit Hilfe des Wächters den Krieg der Schatten gegen ihre Herren vom Zaun zu brechen.
Nach aberhundert Jahren würde der Rat der Schatten ein weiteres Mal unter Beweis stellen müssen, wofür die Altvorderen ihn einst einberufen hatten: die Wahrung des Gleichgewichts und den Schutz der Siegel. Seit ihrer Erschaffung war jeder von ihnen an eines gebunden und für seinen Schutz zuständig. Wann immer ein Siegel brach, würde einer der ihren den größten Teil seiner Macht verlieren. Das war der schicksalhafte Bund zwischen den Siegeln und jenen, die sie bewahrten.
Und doch waren Ripleys entflohener Schatten und das Eidolon nicht das einzige Problem, dem sich
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