Der letzte Schattenschnitzer
unmöglich !
Und doch stand Mama Cervantes dort, vor ihm, die Augen erfüllt von flammender Wut, die welken Hände zu Fäusten geballt und die faltige Brust bebend vor Zorn. Er blickte sie kühl an, und dann verstand er, weshalb sie dort stand. Er erkannte die Tätowierungen, die von ihren Händen bis zu den Schultern empor und über ihre Brust liefen. Und selbst im Gesicht hatte die Alte noch ein paar. In Spanisch, Latein, selbst Nahuatl, der alten Sprache der Azteken. Schutzzauber in so vielen Sprachen, wie die Magie Gesichter hat. Und mehr noch sah der falsche Pilger: Talismane, die an ledernen Bändern um ihren faltigen Hals hingen, mit Zeichen, Worten und Steinen geschmückt, die ihren Träger gegen Dämonen, Geister und die Mächte der Schatten feiten.
Wortlos hob er die linke Hand und streifte provozierend langsam seinen Handschuh ab. Sie sollte wissen, welchen Kräften sie sich hier entgegenstellte. Und kaum dass sie sah, was sich unter dem schwarzen Leder verbarg, begriff sie. Die linke Hand des Fremden bestand aus Finsternis, eine Schattenprothese mit Fingern aus vollkommener Dunkelheit gefertigt. Er bewegte sie, zeigte ihr, wie er den Schatten beherrschte, den sein Meister ihm geschaffen hatte.
Mama Cervantes verstand, dass dieser Mann mit mächtigen Kräften in Verbindung stehen musste. Doch das schreckte sie nicht. Bebend stand sie, ein einziger fleischgewordener Schutzzauber, zwischen ihm und der Tür. Sie würde ihn nicht gehen lassen. Nicht mit ihrem Kind!
So viel Schutzzauber gegen so viele Dinge. Ihr ganzes Leben musste die Alte jene Amulette und Tätowierungen gesammelt haben, um nun – am Ende ihres Lebens – jedem nur erdenklichen bösen Zauber trotzen zu können. Der Fremde lächelte ein feines Lächeln, tat einen Schritt auf sie zu, griff mit einer raschen Bewegung seiner dunklen Hand nach dem Schattenspalter. Die Schatten des Dolches mischten sich mit denen der Finger, und dann schlitzte er Mama Cervantes im Bruchteil einer Sekunde die Kehle auf.
Ohne die sterbende Alte eines weiteren Blickes zu würdigen, griff der Mann den erstarrten Leib des Kindes und verließ die Hacienda Hidalgo unbemerkt durch einen der geheimen Gänge.
7.
Weh mir, dass ich geboren ward,
einem schattenlosen Herrn zu dienen!
Adelbert von Chamisso (1781-1831)
In Peter Schlehmils wundersame Reise
B ald begannen sich in der Höhle am Ende der Welt, tief unter dem Kaukasus, die Schatten wieder zu regen. Mächtige Schatten, die schwer waren vor Sorge um das Schicksal der Menschheit. Während der Älteste in den Kerker des Alchemisten hinabgestiegen war, hatte er den Rest des Rates ausgesandt, um den Zustand jener fünf Siegel zu prüfen, welche die Welt der Menschen vom Reich der Schatten trennten und verhinderten, dass der künstliche Schatten des Alchemisten in den Limbus eindrang …
Nun kehrten die Schatten zurück. Und als sie in der undurchdringlichen Finsternis jener uralten Höhle wieder ineinanderflossen, da spürte jeder von ihnen, wie sich die eigene Sorge mit der der anderen mischte und wie sich mit jedem Schatten mehr davon in ihr gemeinsames Dunkel mengte.
Der Alte hatte in der Finsternis auf sie gewartet. Und seine Schwärze nahm die ihre auf. Stumm gor das Dunkel im Inneren der Höhle, bis seine Stimme schließlich die erste war, die in ihrem gemeinsamen Schatten erklang: »Ripleys Schatten ist frei. Schon länger, als wir ahnten. Wir tun gut daran, fortan auf der Hut zu sein.«
Es waren nicht mehr als zwei kurze Sätze. Doch sie versetzten das Dunkel in Aufruhr. Aufgeregt durchzuckten die einzelnen Mitglieder des Rates einander. Und inmitten ihrer Schwärze war eine unbestimmte Furcht zu spüren. Erregt fuhren nun auch die Stimmen der anderen durcheinander, so dass man sie beinahe nicht mehr voneinander unterscheiden konnte: »Wer hat den Alchemisten befreit?«
»War es sein Komplize? Der Italiener?«
»Ein niederer Magier, der sich vor unserem Zugriff verbarg?«
»Ein Schattenschnitzer womöglich, dem es gelang, sich vor uns zu verstecken?«
»Oder war es gar ein Unfall, und irgendjemand zerstörte sein Gefängnis ohne böse Absicht?«
Ihre Gedanken vermischten sich zu einer wirren Finsternis. Selbst die Gedanken des sonst so schweigsamen Schattens waren leise zu vernehmen. Schlussendlich aber formten sich alle Überlegungen zu einer einzigen Frage. Und der Alte wusste, dass er die Schatten mit seiner Antwort nicht würde beruhigen können. Die Umstände der Befreiung George
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