Der letzte Schattenschnitzer
der Rat in diesem Moment gegenübersah. Denn die Welt der Schatten war in Aufruhr. Und eben daran erinnerte den Ältesten nun die Stimme des Scharfzüngigen, die sich leise in das sorgenvolle Schwarz drängte.
»Doch was auch immer gegenwärtig vonnöten ist, wir dürfen darüber den Jungen und das Mädchen aus Yucca Verde nicht vergessen.«
Und schon ließ auch der Zynische seine Gedanken ins Dunkel fließen: »Oh ja, der Knabe, der von seinem Schatten zum Schüler erwählte wurde, und das Kind ohne Schatten. Wahrlich, die unseren drängen über die Grenzen ihrer Welt hinaus …«
»Womöglich ist es das Eidolon«, warf der Schweigsame ein, und der Scharfzüngige führte seinen Gedanken weiter: »Es könnte in ihr sein. In dem mexikanischen Mädchen.«
»Dann aber wäre sie bereits kein Mensch mehr«, gab der Schweigsame zu bedenken, doch die Stimme des Alten erinnerte sie daran, dass sich in Zeiten wie diesen, wenn das Gleichgewicht ins Wanken und die Grenzen der Welten in Bewegung gerieten, auch die Grenzen des Möglichen verschoben. Und die einzige Frau in ihrer Mitte nahm den Gedanken auf: »Somit könnte sich das Eidolon also auch im Schatten des Jungen verbergen?«
»Ihn zu einem Werkzeug machen …«, murmelte der Scharfzüngige in ihre Schwärze hinein, und wieder dachte der Alte laut, was jeder von ihnen dachte: »So oder so, ob sie nun mit Ripley zusammenhängen oder nicht, sie beide sind wider die Natur. Auch sie gefährden das Gleichgewicht, das wir zu wahren geschworen haben.«
»Sie sind noch Kinder!«, wandte die Frau lautstark ein, wofür der Scharfzüngige jedoch kein Verständnis hatte: »Kinder, in denen womöglich der Keim des Verderbens ruht.«
Und dieser Gedanke sickerte tief in ihr gemeinsames Dunkel, bis der Älteste ihn zu Ende führte: »Sie müssen sterben.« Er sprach in einem Ton, dass jeder von ihnen wusste, wie sinnlos es gewesen wäre, ihm zu widersprechen. Die Frau aber wollte sich damit nicht abfinden.
»Unsere Stimmen zählen nicht weniger als deine. Wir gemeinsam bilden den Rat, und es ist nicht an dir, derlei allein zu entscheiden …«
Der Älteste aber ließ sich nicht beirren. »Es bedarf keiner Abstimmung. Nicht in einem Fall wie diesem. Unsere Aufgabe ist klar: Sie sind Anomalien, Launen der Natur, und darum dürfen sie nicht fortbestehen.«
Auch wenn sie wusste, dass der Alte recht hatte, so war der Unmut der Frau in ihrem gemeinsamen Dunkel noch immer zu spüren. Aber er mischte sich mit der Ahnung, dass der Rat nicht anders konnte, als Jonas Mandelbrodt und Carmen Maria Dolores Hidalgo zum Tode zu verurteilen. Bevor sich die Frau noch richtig mit diesem Urteil abgefunden hatte, erklang schon im nächsten Augenblick aus ihrer Mitte die Stimme des Schweigsamen, der sich berufen sah, dem Beschluss des Alten nachzukommen.
»Ich werde mich darum kümmern …« Seinen Worten haftete etwas Entschiedenes, etwas Bedrohliches an. Er hatte eine Aufgabe angenommen, denn in diesen Dingen war er der Beste von ihnen. Er war der Schattenhenker, der im Bündnis mit dem Schnitter stand. In vergangenen Jahrhunderten hatte er in seinem Namen und in dem des Gleichgewichtes mehr als ein Urteil vollstreckt. Und dabei hatte er nie einen Unterschied zwischen Mensch und Schatten gemacht. Er verschlang die Schatten seiner Opfer, bereicherte sich an ihrem Wissen und ihren Erinnerungen, die auf diese Weise niemals Teil des Limbus werden oder sich mit anderen Schatten mischen würden … Er war ein Schattenfresser, der das Vorrecht genoss, im Schutz des Rates weiter wachsen zu dürfen. Und nun, da es um Ripley ging, war er mit noch größerem Eifer dabei. Denn niemand anderes als der Alchemist war seinerzeit für seinen Tod verantwortlich gewesen. Ripley und das Eidolon hatten den Schattenhenker seinen menschlichen Körper gekostet. Und seitdem fristete er sein weltliches Dasein in einem Körper, der nicht von Gott erschaffen worden war … Ein unwürdiger Umstand.
Nun aber, nach all den langen Jahrhunderten, würde er die Gelegenheit bekommen, sich zu rächen. Wenn das Eidolon in einem der Kinder steckte, würde er es sich holen. Und er würde den falschen Schatten mit Genuss verschlingen.
»So soll es sein. Geh und sorge dafür, dass die Kinder kein Problem mehr darstellen«, stimmte der Alte ihm zu. Nicht einmal mehr die Spur eines Widerwortes hatte in ihrem gemeinsamen Schatten noch Bestand, als er ihre Zusammenkunft in der Höhle am Ende der Welt schließlich beendete.
»Es ist
Weitere Kostenlose Bücher