Der letzte Schattenschnitzer
die meisten Leute aber eher, um sich aufzuwärmen, als der Predigt zu lauschen. Und keinen der Besucher scherte es dabei, wie alt die Kirche war, dass sie Mitte des vierten Jahrhunderts auf Geheiß des Heiligen Mansuy errichtet worden war und einige wenige Eingeweihten sie sogar für bedeutsamer hielten als die Kathedrale von Toul. Seit es aber den Menschen wirtschaftlich immer schlechter ging, hatte Gott einen schlechten Stand in der Gegend. War man früher in der gleichen Situation noch in Scharen in die Kirchen geströmt, so suchten die Menschen heutzutage ihr Heil im Spätprogramm und in billigem Wein. Saint Murebod war ein sterbender Ort, der seine Blüte längst hinter sich hatte. Die meisten jungen Leute waren in die Stadt abgewandert, und die Verbliebenen waren alt. Die welken Reste einer einstmals lebendigen Stadt …
Père Rimbaud hatte sich damit abgefunden, sonntags vor leeren Bänken zu predigen. Auf diese Weise blieb ihm mehr Zeit für seine Studien. Und natürlich für das Internet, das er mit seinen fünfundsechzig Jahren und dem gebrauchten Laptop seiner Haushälterin tatsächlich noch zu erobern wusste. Vater Rimbaud ging mit der Zeit und betrachtete das Netz vor allem als Erweiterung seiner persönlichen Bibliothek. Er verbrachte die Abende damit, in der Sakristei an dem kleinen Pult zu sitzen und zu recherchieren. Die Kirche verließ er nur, wenn eine der wenigen verbliebenen jungen Frauen in Saint Murebod seine Hilfe brauchte oder ein altes Mütterchen die Sterbesakramente erbat.
Dass er die meiste Zeit über innerhalb seiner Kirche blieb, lag jedoch nicht allein am fehlenden Zuspruch seiner Schäfchen. Vielmehr hatte Vater Rimbaud mit der Gemeinde eine Aufgabe übernommen, die er bis auf den heutigen Tag gewissenhaft erfüllte: Hier, in den Mauern der kleinen, windschiefen Kirche von Saint Murebod, hütete er das geheime Vermächtnis ihres Gründervaters.
Der heilige Mansuetus, oder Mansuy, wie die Franzosen ihn nannten, lag unweit von hier in Sankt Peter in Toul begraben. Abgesehen vom Mittelfinger seiner rechten Hand. Der ruhte in einer mit Gold eingefassten Vitrine in Spanien, in einer kleinen Kirche am Jakobsweg, wo er von den Pilgern als wunderwirkende Heilsreliquie verehrt wurde. Außerdem gab es in verschiedenen Kirchen zwischen Rom und Toul zahlreiche Steine, auf denen der Heilige gesessen hatte, einen zweiten rechten Mittelfinger und die Leichentücher zweier Pestopfer, die der Heilige von den Toten wiedererweckt hatte. Die kostbarste und wundersamste Reliquie Mansuys aber verbarg sich in einem kleinen Gewölbe unter der Apsis der Kirche von Saint Murebod.
Vor vierzig Jahren, als Vater Rimbaud das Amt von seinem Vorgänger übernahm, hatte er geschworen, das einzigartige Vermächtnis zu bewahren und wenn nötig mit seinem Leben zu beschützen. Bis zum heutigen Tag öffnete er allabendlich die schwere Luke und stieg in den muffigen Keller hinab, um dort die Kerzen zu entzünden und das Reliquiar zu überprüfen. Im Gegensatz zu den meisten anderen ihrer Art war diese Reliquie nicht dafür gedacht, Gläubige in die Kirche zu locken. Sie ruhte hier im Verborgenen, und nur wenige Eingeweihte wussten überhaupt von der Existenz des Schreines, in dem sich nicht weniger als der Schatten des Heiligen selbst befand. In kniender Haltung, so wie Mansuy dereinst verstorben war, kauerte der Schatten wie versteinert in jenem Schrein. Im Sterben hatte der Heilige ihn von sich abgelöst, um ihn den Gläubigen als Zeugnis der Wunder des Herrn zu vermachen. Und es wirkte beinahe wie ein Hohn, dass ebendieses Zeugnis nun den Gläubigen in den Katakomben der Kirche verborgen wurde.
Im Laufe der Jahre hatte Rimbaud vieles über die Wunder des Heiligen gelernt. Er wusste, dass Mansuys Gabe, die Toten zu erwecken, einem sehr viel älteren Kult als dem christlichen entstammte. Dass Mansuy der Meister einer Kunst gewesen war, die im Lauf der Jahrhunderte nur wenige wahre Meister hervorgebracht hatte. Er selbst hatte seine Wunder als Werke des Herrn beschrieben, doch sie waren das Resultat entbehrungsreicher Studien und jahrelanger Übungen in geheimen Bibliotheken gewesen, in denen Mansuetus die Magie der Schatten zu meistern gelernt hatte.
Vater Rimbaud hatte sich nie tiefer in die Mysterien der Schatten hineingewagt. Es reichte ihm, sich an den Geschichten des Heiligen zu erfreuen, seinen Schatten zu hüten und zu wissen, dass Gottes Welt voll unergründlicher Wunder war. Mit dieser Haltung stand er
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