Der letzte Schattenschnitzer
jedoch im krassen Gegensatz zu dem Mann, der ihm an diesem Abend in seiner Sakristei gegenübersaß.
Boris de Maester war der Kopf einer niederländischen Sicherheitsfirma, die ihren Hauptsitz inzwischen in Paris hatte. Er war knapp vierzig Jahre alt, fast zwei Meter groß, und sein fast weißes Haar war beinahe militärisch-kurz geschnitten. Er war elegant gekleidet, und sein grauer Anzug schien wie für die Kirche gemacht. Nur einige Narben in seinem Gesicht ließen vermuten, dass er kein Mann des Wortes war. Nichts an ihm verriet jedoch, wie alt er tatsächlich war. Vater Rimbaud kannte de Maester seit vielen Jahren, seit er das Heilige Amt übernommen hatte, und seitdem bewunderte er ihn dafür, wie de Maester dem Altern so völlig entsagt zu haben schien. Schon damals, als Rimbaud angekommen war und sein Vorgänger ihn eingewiesen hatte, hatte de Maester im selben Stuhl gesessen wie jetzt. Damals hatte Rimbaud ihn gut zwanzig Jahre älter geschätzt als sich selbst. Heute erschien er ihm mindestens zehn Jahre jünger.
Abgesehen von Rimbaud war de Maester der Einzige, der Kenntnis von Saint Murebods Geheimnis hatte. Und der Père wusste, dass auch der Niederländer die Gesetze der Schatten kannte. Dass er es sich wie er selbst zur Aufgabe gemacht hatte, Mansuy kostbarstes Relikt zu bewahren … Nun aber hatte sich alles verändert.
Vor einiger Zeit war Monsieur de Maester aus Paris angereist und hatte Rimbaud offenbart, dass er dringend einige Zeit bei ihm in der Kirche würde unterkommen müssen. Bereits da hatte der Geistliche gespürt, dass der Schatten des Heiligen in Gefahr war.
De Maester war in der Kirche auf und ab gegangen und hatte sich an ein Zeitalter erinnert, als er Päpste vor Attentaten geschützt hatte. Das aber schien ihm inzwischen so lange her, dass er fast nicht mehr an die Wahrheit dieser Erinnerungen glaubte.
Während der vergangenen Tage hatte Rimbauds Gast dann schweigend auf einer der Kirchenbänke gesessen, den gedankenverlorenen Blick auf die bunten Scheiben der Kirchenfenster gerichtet. Er wartete auf etwas, das ebenso unausweichlich wie schrecklich zu sein schien. Rimbaud hatte die Besorgnis in seinem Gesicht gesehen. Doch er hatte nicht gewagt nachzufragen. Irgendetwas hatte ihm gesagt, dass de Maester es ihm erzählen würde, wenn die Zeit gekommen war. Und eben die war nun gekommen. Während die Bauern draußen am Rand der Felder tranken, verteilte Rimbaud seinen Messwein auf zwei Kelche und stieß mit seinem Gegenüber an. Sein Gast nahm einen kleinen Schluck, blickte den Priester nachdenklich an, und dann vernahm Rimbaud einmal mehr die markante scharfe Stimme, die jegliches Widerwort im Keim erstickte: »Vielleicht wäre es besser, Vater, wenn Sie Saint Murebod verließen.«
Er schüttelte energisch den Kopf.
»Das, mein Freund, ist völlig undenkbar. Ich habe eine Aufgabe. Und die werde ich zu Ende bringen. Auf die eine oder andere Weise.«
De Maesters Stimme wurde ernster. »Ihre Aufgabe … Sie halten einem sterbenden Ort die Hand und bewachen den Schatten eines Toten. Lohnt es sich, dafür zu sterben?«
»Werden wir sterben?«
»Ich weiß es nicht. Aber vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, Ihnen die Wahrheit über Ihre Aufgabe zu verraten.«
»Bei solchen Andeutungen werde ich ja richtig neugierig …« Vater Rimbaud rang sich ein Lächeln ab und nippte an seinem Messwein.
»Sie wissen, dass auch ich in der Kunst des Schattensprechens bewandert bin.«
»Ich habe es mir gedacht. Sie altern schließlich auf eine derart vorteilhafte Art, dass es wohl kaum mit rechten Dingen zugeht.«
»Touché, Vater. Das ist einer der Vorteile. Man bekommt die Gelegenheit, Verschiedenes zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen, wie sie ja durch die Geschichten über den guten Mansuetus wissen dürften …«
»Ich weiß wenig Handfestes darüber. Aber ich denke, es reicht aus, um zu ahnen, dass sie öfter hier waren als die paar Male, die ich mitbekommen habe.«
De Maester schmunzelte. »Sie haben recht, Rimbaud. Mein Schatten war öfter in dieser Kirche, als sie ahnen. Und ich habe Sie beobachtet. In Ihnen gelesen. Der alte Valmont hätte keinen Besseren als Nachfolger für diese Aufgabe wählen können. Sie sind wahrlich ein treuer Diener des Herrn.«
»Sie schmeicheln mir, de Maester. Aber Sie sprachen von einer Wahrheit, die Sie mir über meine Aufgabe verraten wollen.«
»Nun, Vater Rimbaud, lassen Sie es mich so sagen: Sie schützen den Schatten des Heiligen vor
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